Gisele Freund sagte einmal zu Georg Stefan Troller: „Wissen Sie, ich habe doch damals, in den Dreißigern, meine erste große Reportage gemacht, für LIFE, über das Elend der arbeitslosen Bergarbeiter in Nordengland. Und der Bildredakteur, der war ganz erstaunt, daß ich von jedem Motiv nur ein Photo gemacht hatte, nur eines oder höchstens zwei. Aber das saß dann. Später, bei Magnum, hat man mir die Kontaktbögen von Cartier gezeigt, und da hatte er einen ganzen Film… und eines war dann bestimmt darunter, das er den entscheidenden Moment nannte. Auf diese Idee bin ich nie gekommen, schon weil Film so teuer war für mich.“
Nun schreibe ich diesen Artikel als Mann. Aber vielleicht ist dies auch nur so möglich, weil ich manches anders sehe (eben männlich). Diese Aussage von Gisele Freund ist für mich aber der Grund für diesen Artikel gewesen.
Almut Adler hat vor Jahren ein Buch mit dem Titel „Das weibliche Auge“ publiziert. Leider habe ich sie bis heute nicht persönlich kennengelernt sondern lediglich dieses Buch von ihr gelesen. Aber es war anders als Bücher, die ich schreiben würde. Das Buch ist freier, unverkrampfter und experimentierfreudiger.
Almut Adler selbst beginnt das Buch in der Einleitung mit dem Satz: „Sie (die Frauen, Anm. M.M.) suchen eher das Visuelle als das Technische. Frauen fotografieren eher intuitiv, aus dem Bauch heraus, sie erfassen das Besondere und erspüren die Ästhetik. Sie legen mehr Wert auf Farbgestaltung und Bildaufbau. Aufwendiges Equipment ist ihnen anfangs eher fremd…“
Nun habe ich für diesen Artikel nicht das weibliche Auge oder Frauenfotografie als Überschrift gewählt sondern weibliche Fotografie. Mir geht es also um Eigenschaften, die das weibliche Fotografieren ausmachen.
Folgt man Almut Adler und Gisele Freund, dann ist die Grundlage der weiblichen Fotografie ein klassischer Bildaufbau als Basis für Kreativität und das Hören auf das eigene Gefühl. Kreativität und Gefühl in der Fotografie sind schon eher weibliche Attribute.
Mich hat das alles etwas „verunsichert“, weil es eben nicht Richtung Perfektion läuft sondern in Richtung Loslassen und Spüren. Da muß man erst einmal hinkommen.
Ich habe vor einiger Zeit Nicole Strasser vorgestellt, die ebenfalls faszinierende Blicke auf die Wirklichkeit hat. So hätte ich bis dahin nie geschaut. Für mich war die Sicht von Cartier-Bresson (einem Mann) klar, einsichtig, nachvollziehbar.
Aber die weibliche Fotografie schaut anders auf die Dinge.
Alle diese Gedanken zeigten sich auch in meinem persönlichen weiblichen fotografischen Umfeld. Frauen mit Kameras – so meine Beobachtung – waren selten allein. Die Kamera war nicht nur dabei sondern Medium und eigentlich ein Teil des Miteinanders. Und so entstanden Fotos auch im Miteinander zwischen Motiv und dem Prozess des Machens.
Aber natürlich fiel mir noch etwas auf. Während ich und andere Männer im Laden nach den neuen Kameras schauten, interessierte dies die Frauen in der Regel überhaupt nicht. Wenn sie eine Kamera hatten, die ihnen gefiel, dann reichte diese im Prinzip für die nächsten zehn Jahre (bei Männern eher für zehn Monate).
Besonders bemerkenswert war es im Zoo. Das obige Foto zeigt zwei Frauen im Zoo, die beide viel Spaß dabei hatten, mit ihrer Bridge-Kamera um die Wette zu fotografieren. Beide machten kreative und gute Fotos. Ganz anders der Mann auf dem unteren Foto. Dort war die Voraussetzung für das Foto die „beste“ Technik:
Zwischen diesen beiden fotografischen Herangehensweisen liegen Welten. Und doch entsprechen sie exakt den oben beschriebenen Werten und Verhaltensweisen.
Aber damit will ich noch nicht enden.
Für mich hat weibliche Fotografie noch einen zusätzlichen Reiz. Und da kommt der Name Esther Haase ins Spiel. Ich bin immer noch fasziniert von einem Buch, das die Fotografin Esther Haase im Kehrerverlag veröffentlicht hat mit dem Titel Rock´N´Old.
Es handelt sich zwar um inszenierte Fotos, aber die Freiheit, das Miteinander und die Unverkrampftheit haben mich in ihren Bann gezogen.
Ich habe Frau Haase mehrfach angemailt und darum gebeten, bei ihr ein Praktikum machen zu können, weil diese Art zu fotografieren eine für mich völlig fremde und faszinierende Welt ist. Aber wahrscheinlich hat sie mit einem knapp 50jährigen, der einen solchen Wunsch äußert, nichts anzufangen gewußt.
Das alles ändert aber nichts an dem wunderbaren kreativen Wind, den dieses Buch entstehen läßt.
Und auch hier zeigt sich wieder, dass die Kreativität und das einfache So-Sein eine offenkundig weibliche Eigenschaft sind.
Sind Frauen deshalb auch die besseren Fotografinnen? Das würde ich als Mann natürlich in jedem Fall verneinen. Aber sie sind an verschiedenen Stellen einfach besser – oder besser: anders.
Und sie machen Dinge, auf die – zumindest ich – nie kommen würde.
So zeigt die weibliche Fotografie mir, dass es mehr gibt als die männliche Seite der fotografischen Welt. Sie zeigt mir unbekannte Welten und Dimensionen des Sehens, die ich von allein nie entdeckt hätte.