Das Buch über den „Bilderalltag“ von Helge Gerndt und Michaela Haibl (Hg.) aus dem Waxmann-Verlag ist ein Buch für die digitale Welt.
Es gelingt in diesem Sammelband, die neue Art zu sehen und zu denken in Worte zu fassen.
Den Bogen spannt die Frage nach den Möglichkeiten einer Volkskunde für die digitale Welt. Den Inhalt machen Detailuntersuchungen und zusammenfassende Texte zu wesentlichen Veränderungen im Umgang mit Text und Bild und Video aus.
So zeigt Albrecht Lehmann in seinem Aufsatz „Bilder als Vorbild“ am Beispiel von Landschaftsaufnahmen und Landschaftsschilderungen, wie wichtig das eigene Bildgedächtnis für die eigene Orientierung in der Welt ist.
Die Überschrift öffnet schon eine Tür, deren Dimensionen enorm sind.
Wenn unsere inneren Bilder unsere Vorbilder sind, dann ist die Frage nach unseren Bildern entscheidend für das Verstehen unseres Denkens und unseres Handelns.
Nun wissen wir ja, dass unser Gehirn nicht zwischen „echten“ und „unechten“ Bildern unterscheiden kann. Daher sind Anspannung und Weinen im Fernsehen eine normale Zuschauerreaktion.

„Vilem Flusser ist der Ansicht, daß im späten 20. Jahrhundert die audiovisuellen und alphanumerischen Formate, solche, die über Fotos, Filme, Fernsehen und digitale Welten vermittelt werden, den logisch-rationalen Diskurs der Schriftkultur nachhaltig ablösen. Das bisher dominierende Wort stehe in einem harten Verdrängungskampf mit dem Bild.“
So beginnt ein Abschnitt im Aufsatz von Christoph Köck zum Thema „Bilderfolgen. Wahrnehmungswandel im Wirkungsfeld Neuer Medien“.
Köck unterteilt drei Wirkungsphasen der Veränderung von „Wahrnehmungsmodalitäten“.
- Ab Mitte der 60er Jahre erhöht sich die Präsenz von Bildern im Alltag
- Ab Mitte der 1980er Jahre zerschneiden zunehmend Videoclips und Bilder „die Welt in bruchhafte Stücke“
- Ab Mitte der 90er Jahre erfolgt mit der Zunahme der digitalen Medien und der Interaktion der „Iconic turn“, die Hinwendung zum Bild in quasi allen Alltagskontexten
Es entsteht kein Analphabetismus sondern eine „neue Sprache“, die zeichen- und bildgesteuert ist.
Und an anderer Stelle weist er darauf hin: „Wir leben heute nicht nur mit den Bildern…, sondern zunehmend auch in den Bildern… Die Flüchtigkeit, die den elektronischen Umgang mit den Bildern … kennzeichnet, macht es in der Folge immer unwahrscheinlicher, Informtionen als Bausteine des kulturellen Gedächtnisses zu definieren.“
Später in diesem Buch wird sehr detailliert die Frage diskutiert, ob man Bilder lesen kann und wenn wie.
Burkhart Lauterbach untersucht dann fotografische analytische Anleitungsmodelle und viele andere Autorinnen und Autoren zeigen bis hin zu Nazisymbolen, Trachten und Möbeln sehr detailliert, wie man Bildern sehen kann und wie sich das „Sehen“ wandelt.
Insgesamt ist dieses Buch eine kaum zu ersetzende Bestandaufnahme wesentlicher Elemente des Wandels unserer Welt.
Und es ist auch deshalb so gut, weil es knapp fünf Jahre nach seinem Erscheinen noch aktueller geworden ist zum Verstehen der Prozesse, die gerade ablaufen.
Das Buch hat einen besonderen Stellenwert, weil es zeigt, dass Dokumentarfotografie noch wichtiger wird, da die Wahrnehmung noch flüchtiger wird.
Dokumentarfotografie hat die Chance, die Flüchtigkeit zu dokumentieren und dadurch Baustein einer neuen Form des Festhaltens und ein Teil eines visuellen Gedächtnisses zu werden. So wird der Zeitgeist festgehalten und Teil der Geschichte.
Eine echte Empfehlung – und noch erhältlich.
Helge Gerndt, Michaela Haibl (Hrsg.)
Der Bilderalltag
Perspektiven einer Volkskundlichen Bildwissenschaft
Münchner Beiträge zur Volkskunde, Band 33, 426 Seiten, broschiert, 29,90 €,
ISBN 978-3-8309-1553-