Ethik und Dokumentarfotografie

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Fotografie

Roswell Angier hat in seinem Buch „Schärfe deinen Blick“ die Dinge auf den Punkt gebracht.

Ich zitiere:

„James Agee arbeitete zusammen mit Evans am Buch „Let Us Now Praise Famous Men“ („Lasst uns nun die berühmten Menschen lobpreisen“), das sechs Wochen im Leben dreier Familien von Farmpächtern in Alabama dokumentierte. Das Projekt begann als Auftragsarbeit für „Fortune“, wobei die Arbeit niemals publiziert wurde.

Agee regte in seinem Vorwort eine Diskussion über die Ethik in der Dokumentarfotografie an:

„Es erscheint mir kurios, um nicht zu sagen obszön und überaus erschreckend, dass eine Gruppe von Menschen, ein Organ des Journalismus, zum Zwecke von Profilierung und Profit in den intimsten Bereichen des Lebens wehrloser und in erschreckender Weise geschädigter Menschen herumschnüffelt. Im Leben einer ebenso unwissenden wie hilflosen Bauernfamilie, zum Zwecke der Präsentation all der Nacktheit, Benachteiligung und Demütigung dieser Existenzen für eine andere Gruppe von Menschen im Namen der Wissenschaft des „ehrlichen Journalismus“ (was immer dieses Paradoxon auch bedeuten mag) (…) Und diese Leute können über das Gesehene sinnieren, ohne den geringsten Zweifel an ihrer Qualifikation anzumelden, eine „ehrliche“ Arbeit abzuliefern, mit mehr als reinem Gewissen, und in d r sicheren Gewissheit einer nahezu uneingeschränkten öffentlichen Anerkennung.“ In der Praxis der Dokumentarfotografie (und auch der Portraitfotografie) führt die flüchtige Bekanntschaft zwischen Fotograf und Motiv zu mutmaßlicher Nähe und dem Anschein von Intimität.“

Soweit das Zitat.

Hier wird etwas beschrieben, was nicht nur im Zeitalter des Datenschutz von Sozialdaten und sozialem Leben eine Rolle spielt. Der Unterschied zwischen früher und heute besteht ja unter anderem darin, daß früher vielleicht einzelne offizielle Stellen Zugriff auf einzelne Daten hatten und heute durch digitale Daten – Texte, Fotos, Videos – das eigene Leben komplett weltweit sichtbar werden kann.

Zugleich geht es auch um die Frage, wie viel Nähe ist erlaubt?

Und wie gehen wir nun als fotografierende Menschen damit um?

Viele fotografische Projekte beruhen auf der Nähe zu den Porträtierten.

Man ist dabei, man dokumentiert wie selbstverständlich Dinge, die normalerweise nicht öffentlich werden.

Und nun wird das intime Leben einer Person weltweit öffentlich, ungesteuert.

Dabei bleibe ich nicht bei einzelnen Fotos stehen, die eine vielleicht noch größere Distanz ermöglichen.

Wenn es dann um Fotoserien oder sogar Videos geht, dann wird heute ein Maß an Veröffentlichung von Nähe erreicht, das weit über früher hinausgeht und auch nicht mehr eingrenzbar ist, weder zeitlich noch räumlich.

Wenn es ein vorher vereinbartes Einverständnis gibt inklusive der medialen Folgen, dann ist sicher nichts dagegen einzuwenden.

Aber genau darum geht es.

Alles, was ich hier bisher geschrieben habe, bezieht sich allerdings auf „normale“ fotografische Situationen, Strassenfotos, Porträts, Familie, Urlaub, Verein etc.

 

Geschichtswissenschaft

In der Geschichtswissenschaft und der politischen Wissenschaft gab es vor ein paar Jahren auch eine Debatte, die allerdings anders war.

Didi-Hubermans Schrift „Bilder trotz allem“ zeigte Fotos aus Auschwitz.

Kann man die Shoa in Bilder fassen ist im Prinzip die Kernfrage einer Debatte, die bis heute andauert.

Das ist natürlich weiter als das, was ich hier bisher diskutiert habe.

Aber im Kern geht es auch darum.

Und wenn es nicht die Shoa ist, dann ist es vielleicht eine grausame Situation.

Es gibt auch eine Debatte, keine Kriegsfotos zu zeigen, weil sie bei Menschen durchaus entsprechende Reaktionen hervorrufen.

So ist man mitten im Minenfeld des menschlichen Charakters gelandet, wenn man Ethik anspricht.

 

Ethik

Aber ich halte es für gut, weil die Ethik sich mit dem menschlichen Handeln befaßt.

Und auch Fotografen sollten wissen, was sie tun und warum sie etwas tun.

Dieser Artikel kann nur einen Anstoß geben.

Ich habe ihn geschrieben, weil eigentlich niemand dazu schreibt.

Nur im Buch von Roswell Angier habe ich etwas dazu gefunden.

Deshalb haben diese Gedanken nun hier einen Platz gefunden.

Damit sie weiter wirken.

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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