Die Schnappschussästhetik in der Strassenfotografie zwischen Remscheid und New York – Streetfotografie heute

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Wissen Sie was Schnappschussästhetik ist?

„Die Straßenfotografen des frühen 20. Jahrhunderts entwickelten »eine Art Schnappschussästhetik, die dem modernen Stadtleben […] perfekt entsprach. Die Rhythmen der Stadt wurden übersetzt in ein Zelebrieren des Momenthaften und das Akzeptieren nicht klassischer Bildausschnitte sowie eine moderate Bewegungsunschärfe. In den 1930er-Jahren wurden diese ästhetischen Prinzipien von Fotografen, die mit der Leica arbeiteten, zur Perfektion gebracht, etwa von Henri Cartier-Bresson und André Kertész«. Cartier-Bresson gab mit seiner berühmten Philosophie des »entscheidenden Augenblicks« eine adäquate Antwort auf die Hektik des Großstadtlebens, wobei er seine reflexhaft eingefangenen Motive mit einer ausgewogenen, eleganten Komposition zu verbinden verstand. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein war er ein Vorbild für die Straßenfotografie sowohl in Europa als auch in den USA.“

So steht es im Kunstlexikon von Hatje Cantz.

Der Artikel dort wurde auf der Grundlage von Steven Jacobs, »Street Photography«, in: Lynne Warren (Hrsg.), Encyclopedia of Twentieth-Century Photography, Bd. 3: O–Z erstellt.

Steven Jacobs hat über urbane Fotografie im späten 20. Jhrdt. promoviert.  Aber der Artikel wirft Fragen auf, weil er drei Dinge miteinander vermischt, die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben.

Henri Cartier-Bresson wurde vor allem bekannt für Fotos, die geometrisch gut gestaltet waren. Er war eben der Meister des klassischen Bildausschnittes und nicht der Meister des nicht klassischen Bildausschnitts. Seine Schnappschussästhetik zeichnet sich durch klare Formen aus. Daher ist die Vermischung von Steven Jacobs, die er in dem Artikel vornimmt, so nicht nachvollziehbar.

Wenn man sich dem Thema andersrum nähert, dann findet man in der wikipedia eine Erklärung für die Schnappschussästhetik, die im Englischen snapshot aesthetic heisst.

Dort wird dann beschrieben, was man darunter versteht: Es handelt sich meistens um das Fotografieren von banalen Alltagsgegenständen ohne erkennbare geometrische Präsentation der Dinge im Foto selbst.

Die Willkür ist die Regel für die Wirkung des Fotos.

Ich würde es mir einfach machen und zwischen streetsfotografie und streetfotografie unterscheiden. Streetsfotografie ist alles, was man auf der Straße fotografieren kann und wäre dann wohl in diesem Sinne snapshot aesthetic und streetfotografie wäre dann ein eingefangener entscheidender Moment.

So verstehe ich dies wenn ich Joel Rotenberg folge, der schreibt: „Snapshot arbitrariness means that unintended effects, large or small, are the rule.“

Das ist aber eben nicht Cartier-Bresson. Denn dieser hat den Moment geometrisch gestaltet. Das ist anders, völlig anders.

Insofern ist Schnappschussästhetik sehr unterschiedlich. Schnappschussästhetik wandelt sich.

Daher ist die Verschmelzung von Leica, Cartier-Bresson und die Übertragung auf das moderne Fotografieren nicht so einfach.

Denn eigentlich kommt Schnappschussästhetik nach der Logik von Steven Jacobs dann erst nach Cartier-Bresson vor. Oder man geht anders vor und sagt, Schnappschussästhetik wandelt sich vom geometrisch selbst gestalteten Moment bis Hin zum völlig sich dem Zufall und der Auswahl überlassen.

Steven Jacobs weist später in dem Artikel auf folgendes hin. „Durch die zunehmende Individualisierung, das Aufkommen der multikulturellen Gesellschaft und die wachsende Bedeutung von Randgruppen zerfiel die bürgerliche Gemeinschaft im klassischen Sinne und mit ihr der öffentliche Raum. Fotografen wie etwa Bruce Davidson und Nan Goldin widmeten sich Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre Phänomenen von privaterem Charakter, bevorzugten schrille oder extreme Sujets und die Darstellung von Subkulturen.“

Jacobs erreicht elegant die Gegenwart, wenn er darauf hinweist, daß die Streetfotografie in der Öffentlichkeit vielleicht auch nur aus dem Blick geraten ist und nennt als Beispiel für die Wiederentdecktung das Buch Streetphotography Now.

Mehr zu dem Thema findet man sehr schön auch hier in dem Video.

Wenn Sie darüber hinaus eine fortlaufende Sammlung echter Streetfotografie aus Germany sehen wollen zwischen Journalismus und neuen Wegen, die die Wirklichkeit so abbildet wie sie ist ohne dabei immer auf Geometrie zu verzichten, dann empfehle ich die wupperart.

Dort ist die Fotografie so wie das Leben. Aber nicht wie in New York sondern im New Germany zwischen Düsseldorf und Köln in Remscheid, Solingen und Wuppertal.

Wenn Sie mehr sehen wollen, dann können Sie von dort zum Wupperartmuseum wechseln und haben das, was aus dem Alltäglichen als zeitlos aktuelle Themen herausgefiltert wurde.

So findet die Realität des Kunstlexikons von HatjeCantz seinen Niederschlag direkt vor Ort. Das ist die lebendige Kunst in der Fotografie, um die es geht – Streetfotografie today.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/