Das Scharnier zwischen Dokumentarfotografie und Geschichte

Am Ueling, Remscheid, Festumzug mit Hahneköppen - Foto: Horst Mahlke
Am Ueling, Remscheid, Festumzug mit Hahneköppen – Foto: Horst Mahlke

Beim Studium von Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik hatte ich viel mit ihm zu tun: Joachim Rohlfes. Rohlfes war ein Praktiker, ebenso wie mein Ausbilder Professor de Buhr. Eigentlich bildeten beide für die Schule aus, aber damals wurden Geschichtslehrer und Sozialwissenschaftler nicht eingestellt.

Weil ich danach immer nur Erwachsene qualifizierte und es nie um das Thema Geschichte ging, verblaßte die Erinnerung. Der Weg durch die Berufswelt formte dann mein Verständnis von Schulung. Doch Rohlfes didaktisches Verständnis saß offenbar gut versteckt in meinem Unterbewußtsein.

Als ich merkte, daß Texte zum Dokumentieren nicht reichen, kam ich zur Fotografie, genauer zur sozialdokumentarischen Fotografie.

Und Jahre später nach vielen Erfahrungen mit dem Fotografieren stieß ich wieder auf Joachim Rohlfes, mittlerweile in einem erneuerten Buch. Dort fand ich die Formulierung, die den Rahmen und das Scharnier für die Schnittmenge von Geschichte und Dokumentarfotografie definiert.

Ich finde diese Gedanken so gut, daß ich Sie hier noch einmal wiedergebe:

„Der gute Fotograf fängt auch Atmosphärisches, Physiognomische ein, hierin dem Maler verwandt, der Zusammenhänge und Sinnbezüge aufdeckt, die ihre „innere Wahrheit“ in sich tragen.

Dies bedeutet aber gleichzeitig, daß auch die vermeintlich so sachlich-neutrale Fotografie subjektive Züge trägt, daß ihre Einstellungen (im wörtlichen und übertragenen Sinn) und Absichten im Spiel sind, die die Möglichkeit von Verfälschung und Manipulation einschließen.

Fotos sind stets Ausschnitte aus einem größeren Ganzen und zwar in räumlicher und zeitlicher Hinsicht: Sie zeigen die Menschen und die Dinge immer nur von einer Seite und sie sind Momentaufnahmen, deren Vorher und Nachher im Dunkeln bleibt. …

Mit Fotos hat man darum nicht weniger kritisch umzugehen als mit anderen Quellen. Das Hauptproblem steckt aber nicht in der einzelnen Aufnahme als solcher. Zwar muß man auch hier vor Fälschungen auf der Hut sein und die Perspektivität jeder Aufnahme im Blick haben – was aber nichts daran ändert, daß die Wirklichkeitsnähe einer Fotografie prinzipiell von keiner anderen Quellengattung übertroffen wird.

Die Gretchenfrage ist vielmehr wie typisch oder untypisch die Aufnahme für das ist, was sie zu dokumentieren vorgibt.“

In diesem kleinen Absatz ist wirklich alles drin.

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/