Fotografie und Psychoanalyse – Kinderfotos als Erinnerungshilfe
„Manche Patienten sind vollkommen erstaunt, wenn ich als Analytiker frage: „Wollen oder können Sie nicht einmal Kinderfotos mitbringen?“ So beginnt ein Artikel von Herrn Tilman Moser, der im Deutschen Ärzteblatt publiziert wurde.
Die Überschrift lautet „Anstrengende Wiederbegegnung“.
„Einige sagen: „Da will ich gar nicht hingucken, ich ertrage den Anblick nicht, auch nicht den meiner eigenen Person.“ Es kommt Scham hoch, manchmal sogar Ekel – ich spreche zuerst natürlich von den Traumatisierten. Sie entdecken widerwillig ihre geringe Selbstliebe, fürchten plötzlich wieder, dass auch der Therapeut sie nicht mag oder gar widerwärtig findet. Viele haben jahre- oder jahrzehntelang die Bilder nicht betrachtet und reagieren schockiert, im besten Fall erstaunt, skeptisch, die Bilder sind noch einmal frühe Symbole für ein Selbst, das nicht liebenswert erschien oder das einem auch fremd geworden ist.“
Historisch-soziale Einordnung der Kinderfotos
Der Artikel ist höchst aufschlußreich und spiegelt Zeiten wieder als Fotos noch eine andere Bedeutung hatten. Damals waren Fotos noch nicht allgegenwärtig sondern die Menschen, um die es geht, haben Fotos von sich oder von sich gemacht als Fotos noch besondere Momente darstellten und in eine physische Form gebracht werden mußten. Es waren oft noch Textmenschen, die eher Notizen machten oder Tagebücher schrieben.
Insofern ist die Aufforderung von Herrn Moser offenbar an Menschen gerichtet, von denen damals (vor 20+ Jahren) bewußt Fotos (meistens von Familienmitgliedern) gemacht wurden und diese Fotos mehrere soziale Gebrauchsweise im Rahmen der Familie (und darüber hinaus) erfüllten.
Leiden betrachten das einen leitet?
Es gibt hier in meinen Augen einen interessanten Zusammenhang zwischen dem Thema von Susan Sontag „Das Leiden anderer betrachten“ und der Begegnung mit sich selbst.
Ist es in diesem Fall eine Betrachtung des eigenen Leidens, das uns evtl. leitet und einschränkt?
Ob dieses Leiden damals wirklich so war oder sich in der Erinnerung später so darstellt, kann ich nicht beantworten. Aber ich kann versuchen mit dieser Fragestellung mir einen Zugang zu dem Thema zu verschaffen.
Herr Moser beschreibt als Therapeut in diesem Artikel sehr interessant das Zusammenspiel von Beobachtung, Reaktion, Aktion zwischen Klient, Therapeut, Auslösefaktoren von Erinnerungen, Aussprechen von Bildern, Reaktionen und dem Erleben und Lösen von psychischen Blockaden, aber auch den Grenzen.
Bilder leiten auch Leiden
Die Bilder im Kopf sind das, was dich leitet und leiden läßt und so leben läßt. Und die Veränderung von Bildern im Kopf kann dir helfen, dich zu befreien.
Wer schon einmal eine erfolgreiche Hypnose mitgemacht hat, der weiß wie stark die Veränderung von Bildern im Kopf, die man ja selbst neu gestaltet, zu Lebensverbesserungen führen kann. Aber auch wer das nicht weiß oder kann, dem dürfte klar sein, daß die Macht der Bilder auch sozial Handlungen und Denken leitet.
Und weil die Bilder in den Kopf sollen, werden sie zunächst außerhalb des Kopfes produziert, damit sie durch die Augen in den Kopf gelangen mit all den Medien und ihren Mitteln, die dafür entwickelt wurden. Das ist auch der Kern von Propaganda.
Visualisierung ist der Weg
Der Weg über die Augen in den Kopf ist auch der Weg, den Herr Moser dargestellt hat. In den Kopf kommt man auch noch über das Riechen, Hören und Fühlen. Aber hier geht es um Fotos.
Sie konfrontieren dich also dann mit dem eigenen Verdrängten und Vergessenen.
Das führt im Darmhirn und im Kopfhirn dazu, daß es Reaktionen gibt, seelische und körperliche Reaktionen.
Wenn es sich um unverarbeitete Erinnerungen handelt, kommen sie nun hoch und können durch das Aussprechen und psychoanalytische Besprechen auch neu beurteilt werden. Und vielleicht tun sie dann noch einmal weh, um dann nie mehr weh zu tun. Das wäre dann die Wunde, die endlich behandelt wird, um dann zu heilen. Das ist der Sinn der Psychoanalyse, um endlich freier zu sein von dem, was uns den Blick auf die Gegenwart verstellt.
Jeder Fall ist anders
Aber es gibt keine Patentantwort wie Herr Moser selbstreflektierend darstellt:
„Die Patientin Hannah aus meinem Buch „Der grausame Gott und seine Dienerin“, eine sehr schwierige Behandlungsgeschichte, schrieb mir, als ich ihr nach ein paar Jahren diesen Text schickte, zu ihrem strahlenden Kinderbild der Dreijährigen, das noch immer über meinem Schreibtisch hängt: „Ihr Text zum Anschauen von Kinderbildern in der Therapie ist sehr interessant. Aber ich vermisse ein wenig das Positive, das auf den Bildern beim gemeinsamen Anschauen auch entdeckt werden kann. Mir hat es damals geholfen, mich als kleines fröhliches Kind zu sehen als auch zu merken . . . dass ich mich als kleines Kind mag. Außerdem kommt es auch auf die Stimmung an, in der man die Bilder anschaut.“
Mag ich mich als kleines Kind?
Soziale Gebrauchsweisen von Kinderbildern
Welche sozialen Gebrauchsweisen von Kinderbildern bzw. Kinderfotos kennen wir nun schon?
Die erste soziale Gebrauchsweise ist die bei der Entstehung der Fotos. Sie wurden meistens von Eltern oder Familienangehörigen gemacht, um wohl eher positive Momente festzuhalten und den Stolz zu zeigen, sich selbst aber auch anderen. Das erinnert ein bißchen an die Sparkassenwerbung „Mein Haus, mein Auto, mein Boot, meine Familie …“ Dabei geht es natürlich auch darum, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Die Fotos sind damit Ausdruck und Dokument sozialer Gebrauchsweisen derer, die sie erstellten und so gestalteten.
Die zweite soziale Gebrauchsweise ist die spätere Nutzung in anderen sozialen Zusammenhängen. Wir kennen das von Fotos, die den sozialen Aufstieg zeigen sollen oder das soziale Umfeld. Meistens sind sie aus der Sicht des sozialen Stolzes aufgenommen und nicht, um schlechte Verhältnisse zu dokumentieren. Daher haben sie oft einen persönlichen Ansatz, der den eigenen „Aufstieg“ oder den der Familie im vorgefundenen sozialen Rahmen darstellen und festhalten soll.
Die dritte soziale Gebrauchsweise ist die eigene Biografiearbeit. Es sind die Selfies vor den Selfies wenn man so will. Man fotografierte sich nicht selbst wie heute sondern wurde fotografiert, um etwas im damaligen Zusammenhang zu zeigen und festzuhalten. Und wenn man nicht mit einer Familientradition aufwuchs, so wie es in reichen oder adligen Familien bis heute noch der Fall ist, dann ist man bei uns eher Teil einer Industriekultur mit fremdbestimmten sozialen Aufstiegen und Abstiegen, die nur durch Selbstaufgabe zugunsten totaler Funktionalisierung von Erwerbsarbeit ohne Eigenleben (ohne Selbstbild) ein soziales Überleben eventuell zeitweise sichert.
Insofern kommt dann dem Selbstbild eine entscheidende Funktion zu.
Und wenn man es nicht mehr hat, weil man im Rahmen der Funktionalisierung irgendwann nicht mehr funktioniert und merkt, daß das Selbst fehlt, dann fehlt was. Der Satz ist zwar schief aber so weiß jeder, was ich meine.
Genau da ist der Punkt wo der Besuch eines Psychologen und die Betrachtung der Fotografien von einem Selbst mithelfen können, sich selbst zu finden.
Die Bilderflut von Kinderbildern in digitalen Zeiten
Dabei stelle ich mir die Frage, wie das zukünftig in den neuen digitalen Zeiten geht. Das Handy (und mit Glück die Cloud) sind aktuell die einzigen Orte, an denen Erinnerungen aus dem Leben gespeichert werden.
Aber was passiert damit in den nächsten zwanzig Jahren?
Bleibt das alles gespeichert?
Im besten Fall werden später Kinderfotos an die Wand projiziert, im schlechtesten Fall sind sie gelöscht.
Ich bin gespannt.
Der Blick auf die Kultur
Es hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, wenn man darauf verweist, daß alles dies, was hier geschildert wurde, in Ländern z.B. mit Verhüllung so nicht möglich ist. Daher ist das bisher Geschriebene auch Ausdruck einer bestimmten Kultur.
Umgekehrt symbolisiert die Verhüllung geradezu die Verweigerung vor dem Fotografieren. Es soll kein Selbst geben, das gezeigt werden kann.
Nun ist die Welt gemischt und es war auch nicht überall so. Zudem fällt auf, daß diese Frage heute neu gestellt werden muß, weil die Verbreitung des Handys mit Fotofunktion in jeder Religion und Kultur dazu führt, daß die Fotos hinter immer mehr Schleiern gemacht werden und auch immer mehr Fotos zu einer neuen Sicht auf sich selbst führen.
Insofern bewegen sich auch hier die sozialen Gebrauchsweisen. Aber dies dürfte dann eher Aufgabe von Kulturwissenschaftlern sein, die dies im Querschnitt und Längsschnitt vergleichen. Aber Selfies sind mächtig und die neue Kommunikation über soziale Netzwerke stabilisiert und destabilisiert tagesaktuell Menschen und Haltungen.
Fazit – der Blick hinter die Oberfläche
Das Soziale ist Schicksal und Chance des Menschen. Das Selfie gestern und heute ist die Chance, sich selbst in die Augen zu schauen und das zu sehen, was man nie gesehen hat – psychologisch unter fachkundiger Anleitung, fotografisch selbst.
Die Selfiefunktion heute gehört in einer visuellen Kultur dazu und dient dazu, die Oberfläche seines Selbst täglich neu zu sehen. Die Frage wird sein, ob man da stehen bleibt oder hinter die Oberfläche blickt.
Das wird spannend.
Sprechen wir´s an!
Noch ein Hinweis:
Die Begegnung mit eigenen Kinderfotos habe ich an einem Beispiel praktiziert, weil ich auf Fotos von mir gestoßen bin, die ich nicht kannte und die mir diese Begegnung ermöglichten. So ist dieser Artikel direkt in der Praxis getestet worden und hat bestanden.