Konfrontation mit Kinderfotos – soziale Gebrauchsweisen der Fotografie und Psychologie – ein Praxisbeispiel

Dieser Essay ist die praktische Umsetzung von Gedanken, die ich zuvor in einem anderen Artikel dargestellt habe.

Es handelt sich bei allen Fotos um Fotografien, die ich zufällig als Dias gefunden habe und nicht kannte. Ich erinnere mich auch an nichts aus dieser Zeit.

Mein Opa väterlicherseits steht mit mir auf der Hühnerwiese. Meinen Opa habe ich sehr gemocht, er war am liebsten im Garten. Er stammte aus Ostpreussen. Sein Vater war Knecht auf einem Hof und er kam mit seinen Brüdern nach dem 1. Weltkrieg nach Remscheid. Sie suchten Arbeit und fanden diese in Fabriken wie den Deutschen Edelstahlwerken oder Mannesmann.

Ein eigenes Haus mit Land war nur möglich, weil Hitler ihnen Land und Häuser zur Verfügung stellte, aber nicht fertig sondern sie mußten alle mit anpacken und viel Eigenleistung erbringen von der Rodung bis zum Aufbau der Häuser. Da half die Siedlergemeinschaft, weil sie alle als Kollektiv zusammen die Häuser bauten und sich halfen. So klappte es. Das Foto ist viel später aufgenommen, ungefähr 1963.

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Die Generation danach machte in den Unternehmen eine Lehre und wußte, wenn sie was gelernt haben, dann erhielten sie auch einen festen Arbeitsplatz und konnten selbst eine Familie gründen.

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Das ist mein Vater, der stolz den Kinderwagen in das Auto schiebt. So ordentlich sahen damals Facharbeiter aus. Fleißig, sauber, ehrlich und qualifiziert und die Gesellschaft gab ihnen eine Perspektive. So wird man dann tragender Teil des Systems, indem man die hier geborenen Menschen integriert und nicht ausgrenzt.

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Mein Vater spielt mit mir im Garten. Ein seltener Anblick, weil er das Ideal verkörpert hatte, lebe um zu arbeiten und sei besser als Maschinen – Krupp, Thyssen und Co freuten sich.

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Hier sieht man sehr gut die sozialen Funktionen und die soziale Kommunikation. So sahen deutsche Frauen aus und so sahen ihre Kinder aus. Diese Kinder sind jetzt über 50 und die Frauen über 70.

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Ja das bin ich. An dieses Glück kann ich mich nicht erinnern aber hier sehe ich es. Es war real. Daneben steht Tante Käthe, eine ehemalige Ordensschwester und die Schwester meine Oma väterlicherseits. Sie war sehr nett aber starb verarmt und allein in Köln in einer Hochhaussiedlung. Sie hatte eine Einzimmerwohnung, in deren Mitte ein Vorhang war, der Schlafzimmer und Küche mit Sitzgelegenheit voneinander trennte. Das werde ich nie vergessen und daran erinnere ich mich oft, wenn ich höre, welche Ansprüche heute selbstverständlich sind, sogar von Amts wegen.

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Ich glaube, da waren wir in Italien oder Österreich. Wie staats und stolz ich da stehe. Sauber und adrett. Vielleicht bin ich deshalb bis heute so.

Alle diese Fotos kannte ich nicht. Natürlich gibt es noch mehr Fotos, aber diese sind speziell mit mir. Ich bin überall der Mittelpunkt und ich sehe es hier erstmals so.

Diese Konfrontation mit der Vergangenheit löst tiefsitzende Erinnerungen aus, die sich wohl erst in den nächsten Wochen im Bewußtsein oder im Traum zeigen werden.

Zugleich zeigen diese Fotos aber auch die dokumentierende Funktion.

Sie belegen mein Lächeln, ich sehe mich lachen, ich sehe mich.

Es sind meine eigenen Augen, die mich da anschauen.

Die Wiederbegegnung mit mir.

Zugleich sind diese Fotos auch Ausdruck sozialer Verhältnisse und geschichtlich gewordener Entwicklungen.

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Ja Tante Käthe, mit dem Blick von heute sehe ich dich und mich. Später treffen wir uns ja alle wieder. Aber ich schaue erstmals mit Zuneigung auf mich selbst und dich habe ich bis heute in guter Erinnerung.

Mich zu sehen löst viele Gefühle aus, die ich noch nicht oder nicht hier beschreiben will.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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