Kann man Seelen portraitieren? Welche Wahrheit zeigt sich im Porträt und in der Darstellung? Ist das Dargestellte die gewünschte Wahrheit oder der dokumentierte Wunsch?
Einige der Fragen, die ich mir stellte, als ich das nie auf Deutsch erschienene Buch von Max Kozloff las mit dem Titel „The Theatre of the Face“.
The Guardian schrieb dazu frei nach der Google Übersetzung: „Es ist bezeichnend, dass die Fotografen, zu denen Kozloff gehört, oft viel berühmter sind als ihre Darsteller. Hier gibt es Taxifahrer und Bardamen, Seeleute und Majoretten, Hustler, Sharecropper und Vagabunden. Jugendliche und Prostituierte sind zahlreicher als Staatsmänner. Kozloff bevorzugt anonyme Gesichter und alltägliche Orte: Er macht Platz für weggeworfene Streifen von Fotoautomatenporträts, aber nicht für die berühmten Sitter von Karsh, Bailey, Leibovitz oder Testino.
Natürlich musste sich die Performance des Motivs immer mit der des Fotografen messen, der auch eine Art Produktion aufnahm. Edward Curtis zum Beispiel würde Requisiten, Perücken und Kostüme verwenden, um sicherzustellen, dass die indigenen Stämme, die er aufzeichnete, seinen eigenen Erwartungen an ihre Kleidung entsprachen. Brassaïs scheinbar spontane Aufnahmen von „secret Paris“ erforderten einen Assistenten, Magnesiumfackeln und eine auf einem Stativ montierte Kamera. Und Robert Coburns maskenhaftes Porträt von Merle Oberon wurde bewusst beleuchtet, um die Narben zu verbergen, die durch die Make-up-Vergiftung entstanden sind.“
Es ist der Weg vom Portrait zum heutigen Posing, den uns Kozloff zeigt. Dabei spielen natürlich die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie eine zentrale Rolle.
Auf lensculture finden wir eine kurze Beschreibung des Buches:
„Publisher’s Description
– An engaging and authoritative account of the history of portrait photography by one of the world’s leading photography critics
– An essential title for all photography students and enthusiasts, and for anyone interested in portraiture – one of the most popular and enduring of all genres
– Covering many styles and movements, it includes work by pioneers such as Edward Sheriff Curtis, seminal figures like Walker Evans, Cecil Beaton and August Sander, as well as artists such as Martin Parr, Cindy Sherman and Philip-Lorca diCorcia
– With over 300 black and white and colour photographs, this book offers a new perspective on the history of photography by examining the personalities both behind and in front of the camera
– Kozloff considers portraiture the central project of photography“
Der letzte Gedanke dabei ist aus meiner Sicht sehr wichtig: Kozloff betrachtet das Porträt als zentrale Aufgabe der Fotografie.
Wir sehen bei ihm, daß Potrtraits früher nur denkbar waren im sozialen Zusammenhang, heute oft losgelöst von sozialer Wirklichkeit sind – wobei dies ja auch sich selbst sozial dokumentiert.
Kozloff beginnt sein Buch mit den Worten „Among its many functions, the human face acts as an ambassador, on the job whenever out in the world. We are face reading socially inquisitive animals, accustomed, most likely programmed, to respond to physiognomic expressions as signs that help us decide our own behaviour in imitless scenarios.“
Auf Deutsch ungefähr so: „Unter seinen vielen Funktionen fungiert das menschliche Gesicht als Botschafter bei der Arbeit, wann immer es auf der Welt ist. Wir sind Gesichter lesende sozial neugierige Tiere, die höchstwahrscheinlich programmiert sind, um auf physiognomische Ausdrücke als Zeichen zu reagieren, die uns helfen, unser eigenes Verhalten in unnachahmlichen Szenarien zu bestimmen.“
Daher ist das Zeigen und Fotografieren des menschlichen Antlitzes in einer freien Gesellschaft ein Zeichen von Menschenrecht und Menschenwürde.
Setzt man dies nun ein Verhältnis zu neuen sozialen Entwicklungen zwischen Burka und Verschleierung einerseits und Gesichtserkennung mit Sozialkontrolle andererseits, dann sieht man das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen.
Der Buchumschlag zeigt ein Foto von Lewis Hine „Noon hour in the Ewen Breaker.“
Das Portrait in der Fotografie war eben die Aufnahme des Menschen in seiner sozialen Situation und der sich daraus ergebenden Rolle und nicht das Posieren.
Daran zu erinnern und zu zeigen wie wertvoll und gut solche Fotos sind, ist in meinen Augen der wahre Wert dieses Buches.
Und er geht auf die großen Namen ein in einer Weise, die in den Promiblasen der Fotografie kaum zu finden sind.
Wenn er August Sander analysiert, dann weist er darauf hin, daß für Sander ein Portrait unbedingt die Charakteristik der Umstände einfangen mußte. Nur so ist sein „Antlitz der Zeit“ überhaupt nur denkbar gewesen – und so gut und lebendig bis heute.
Wenn er auf Cartier-Bresson und Doisneau zu sprechen kommt, dann analysiert er an einigen Bildbeispielen wie unterschiedlich beide soziale Wirklichkeit im Portrait darstellten. Dabei stehen hier Gruppenportraits im Fokus. Ich muß sagen, so etwas und so gut erklärt habe ich vorher noch nie gelesen.
Max Kozloff schreibt auch über Salgado, der ja letztes Jahr in Deutschland noch mal in aller Munde war. Letztes Jahr diskutierte man ja wieder darüber, ob Schreckliches fotografisch „schön“ dargestellt werden darf. Kozloff hat dies für Salgado schon 2007 sehr schön analysiert und schreibt (ich übersetze das Englische), daß Lewis Hine und die FS Fotografen sich sehr gewundert hätten, daß mittelmäßige Fotos besser seien für die Darstellung unangenehmer Wahrheiten. Nein, gerade gute Ästhetik wirkt weiter….
Das Buch ist substanzreich und vermittelt gutes Wissen über Fotografie und Portraiture.
Das ist eben kein Posing und Posen.
Aber Geld verdient man eben heute genau damit zwischen Selbstdarstellung und passgenauen Fotos für das eigene Profil – die soziale Darstellung und Selbstdarstellung.
Ab hier sprudle ich geradezu über mit Gedanken und Ideen zu den Inhalten des Buches und dem Transfer in die Gegenwart.
Besser ist, Sie lesen es selbst und entwickeln ihre eigene fotografische Inspiration.