Die Sehnsucht im Sucher

Der Sucher war mental für mich auch immer der Blick in die Vergangenheit.

Ich habe ja zunächst nur geschrieben.

Zur Fotografie kam ich erst als ich merkte, daß Texte nicht reichen. Ich wollte mehr und besser dokumentieren.

Als Historiker zum Dokumentarfotografen und als Sozialwissenschaftler mit juristischem Hintergrund zur Gegenwartsbetrachtung. Vielleicht ist dies deshalb alles so wie es hier geworden ist.

Tatsächlich war ich digital zuerst fast immer nur mit kleinen Digitalkameras unterwegs, die nur einen Monitor hatten (z.B. Sony DSC-F505) um Soziales und Schwieriges aufzuzeichnen in Bild und Wort.

Sucher in kleinen lautlosen Digitalkameras ab 6 MP gab es erst später – wenn überhaupt.

Wirklich interessant wurde es erst mit der Fuji X10 und kurz danach überschlugen sich ja die technischen Entwicklungen durch die Fuji X100 und die dann folgenden Sucher.

Aber in der Fotopraxis war ich vorher auf kleine Kompaktkameras mit Monitor angewiesen, so wie es heute auf den Smartphones der Fall ist.

Der Sucher war für mich immer die Chance, etwas so wie früher zu tun. So wie „früher“ ein Foto im Rahmen zu konstruieren.

War „früher“ ein mentales Konstrukt, um die Realität auszuhalten?

War es eine Flucht aus der Gegenwart oder eher der Versuch alt und neu zu verbinden?

Statt soziales Elend und soziale Konflikte in der Industriegesellschaft einzufangen mit schnellen Fotos, bot mir der Sucher soziale Distanz und Abstand, damit ich es irgendwie aushalten konnte.

Ich war ja mittendrin statt nur dabei.

John Berger: „Jedenfalls leben wir in einer Welt des Leidens, in der das Böse grassiert, in einer Welt, die unser Dasein nicht bestätigt, in einer Welt, der wir widerstehen müssen. In dieser Situation gibt uns der ästhetische Augenblick Hoffnung. Daß wir einen Kristall oder eine Mohnblume schön finden, bedeutet, daß wir weniger allein sind, daß wir tiefer in die Gesamtexistenz einbezogen sind, als es uns der Ablauf eines einzigen Lebens glauben lassen würde… Alle Ausdrucksformen der Kunst haben sich aus dem Versuch entwickelt, das Augenblickliche in das Immerwährende umzuwandeln.“

Der Sucher ändert die Sichtweise im Kopf: Sucherblicke sind intensiver

Und wenn man dann noch manuell fokussiert, wird es sogar meditativ.

Dann ist Fotografieren fast schon meditieren, konzentrieren, fokussieren.

Achtsamkeit erfordert Fokussierung.

Das Schöne in der Gegenwart sehen.

Schöner mit dem Sucher sehen.

Die neue Kombination aus sensorbasierter Fotografie mit Sucher ist meine bevorzugte Lösung geworden.

Man merkt, ich bin woanders als noch vor zehn Jahren, weil ich nicht mehr soziale Kämpfe aufnehmen will mit schnellen Fotos, die den Moment einfangen, sondern mit dem Sucher suche – anders sehe.

Es ist spirituell, es ist einfach schön.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert