Anti-Fotojournalismus als neuer Normalfall oder vom kritischen zum kritikwürdigen Foto

Auf Englisch heißt es Antiphotojournalism.

Es ist der Versuch, die neue Wirklichkeit im Fotojournalismus im Verhältnis zur früheren Wirklichkeit zu beschreiben.

Dabei lassen sich drei Dimensionen unterscheiden, 1. die ursprüngliche, 2. die veränderte und 3. diejenige, die transzendiert.

 

Erste Dimension

Fotojournalismus zeichnete sich u.a. durch folgende Elemente aus:

„Classically, photojournalism has been governed by a number of tropes: the heroic figure of the photographer, the economy of access to the event (getting „close enough,“ as Capa famously said), the iconic image, the value of ‚the real‘ and its faithful representation in the picture, the mission of reporting the truth and conveying it to a faraway public, and often a commitment to a sort of advocacy or at least a bearing witness to terrible events“, auf Deutsch ungefähr:

  • die Person des Fotografen
  • direkt dabei zu sein
  • das gekonnte Foto
  • der Versuch die ungeschminkte Wirklichkeit zu zeigen
  • engagierte Fotografie

Genau dies verschwindet zusehends.

 

Zweite Dimension

Wir sehen beim Journalismus die aufklärende Recherche verschwinden und treffen stattdessen den Informationsmanager neuen Typs und wir erleben ähnliche Veränderungen im Fotojournalismus.

Allerdings scheint es mir, daß diese Debatte schon wieder verschwunden ist und sich die neue Art des Fotojournalismus durchgesetzt hat, der zurecht als Anti-Fotojournalismus bezeichnet wird.

Aliocha Imhoff und Kantuta Quiros haben dies schon 2011 auf der Paris Photo nach der Ausstellung von 2010 in Barcelona von Carles Guerra and Thomas Keenan sehr schön zusammengefaßt dargestellt und weisen darauf hin, daß es darum geht, nicht mehr Herr der eigenen Bilder zu sein.

Anti-Fotojournalismus bedeutet, man kann z.B. die Realität des Krieges nicht mehr selbst fotografieren, man operiert vom Hotel aus oder nutzt Fotos des Militärs oder kann nur noch mit dem Tele arbeiten und nicht nah genug ran.

Das gilt natürlich für alle Bereiche des Fotojournalisms bis zu vorgegebenen Fotos im Reisejournalismus oder Vorgaben bei den Orten und Themen.

Opferfotografie, Armutspornografie, inszenierte Symbolik sind Teile dieses neuen Anti-Fotojournalismus.

Was für die Kriegssituationen gilt, ist ebenso dort, wo Frieden ist. Wir sehen außer der täglichen Dosis Telefotos der Politiker von heute so gut wie nichts mehr.

Nah dran ist ausgeschlossen, die Mächtigen haben die Pressefreiheit durch Zutrittsverbote weitestgehend ausgeschaltet und erlauben nur noch die symbolische Fotografie.

Ihre eigenen Fotografen liefern die Fotos, die das vermitteln sollen, was sie wollen.

So wurde aus dem kritischen Foto das kritikwürdige Foto.

Eine andere Frage ist natürlich die der Rezeption.

Wollen die Menschen heute noch kritische Fotografie und würden sie dafür bezahlen?

Der innerste Kern überzeugter Demokraten sicherlich, aber drumherum ist eher Ebbe und stattdessen die visuelle Flut der Textersatzfotografie angesagt.

So sind wir in der Zeit des visuellen Neusprech angekommen.

(Und bevor dies alles Antifotojournalismus hieß, ist es schon 2002 in einem Buch beschrieben worden – dies nur mal als Hinweis wie weitsichtig manche sind und wie wenig auf sie gehört wird)

 

Dritte Dimension

Allerdings ist dies noch nicht das Ende dieses Themas.  Kritische Geister geben sich damit nicht zufrieden sondern versuchen, Anti-Journalismus subversiv so zu nutzen, daß der Betrachter dies durchschaut und überwindet.

Neben diesem Video habe ich für den deutschsprachigen Raum von Nora Berning einen wunderbaren Aufsatz gefunden, den ich in seiner Fülle nur empfehlen kann.

Hier ein paar erhellende Sätzer daraus:

„Im Gegensatz dazu fordert der Anti-Fotojournalist die herkömmlichen Seh- und Denkgewohnheiten des Betrachters heraus und verändert sie. Dazu nutzt er auch künstlerisch-ästhetische Mittel. Ihnen kommt die Aufgabe zu, den Blick des Fotografen auf die Welt durch einen weiteren, einen anderen Blick zu ergänzen. Nicht das Bildzeichen steht im Vordergrund, sondern der Akt des Schauens, der sich zu einer Erzählung verlängern lässt. Auf diese Weise kann die „Kartographie des Wahrnehmbaren, Denkbaren und Machbaren“ – wie sie der französische Philosoph Jacques Rancière in seiner Theorie des ‚emanzipierten Betrachters’ beschreibt – neu ‚gezeichnet’ werden.

Die veränderten Ansprüche, die der Anti-Fotojournalismus an den Fotografen, das Bild und den Betrachter stellt, sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Sie werden immer wieder auch der konventionellen Herangehensweise der World Press-Fotografen gegenübergestellt, so dass die Unterschiede zwischen beiden Formen der Dokumentarfotografie deutlich werden können.

Der Fotograf und sein Gegenstand

Der Begriff ‚Anti-Fotojournalismus’ wurde von dem amerikanischen Künstler und Kritiker Allan Sekula geprägt. Er hat mit seinen Arbeiten einen wichtigen Beitrag zu einer umfassenden Theorie des Bildes geleistet. Auch wenn Sekula in der Aid and Abet-Ausstellung selber nicht vertreten ist, lässt sich gerade mit seiner Person ein Einstieg in die Denk- und Arbeitsweise eines Anti-Fotojournalisten finden.

Dazu dient ein Bild aus Allan Sekulas Fotoserie Waiting for Tear Gas / Warten auf Tränengas (1999/2000). Die Serie setzt sich mit der Protestbewegung gegen die wirtschaftliche Globalisierung im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskonferenz 1999 in Seattle auseinander.

Sekula äußert sich dazu wie folgt: „Die Arbeitsidee war, mich, wenn es sein musste, vom Morgengrauen bis drei Uhr nachts mit dem Strom des Protests zu bewegen – und die Flauten, das Warten und das Geschehen am Rand der Ereignisse aufzunehmen. Die Faustregel für diese Form des Anti-Fotojournalismus: kein Blitz, kein Zoomteleobjektiv, keine Gasmaske, kein Autofokus, kein Presseausweis und kein Druck, auf Teufel-komm-raus das eine definitive Bild dramatischer Gewalt einzufangen.“

Sekulas Fotos geben nicht ausschließlich ein visuelles Zeugnis über das ab, was damals in Seattle geschah. Sie wollen erst recht kein archivierbares historisches Dokument sein. Sie zeigen vielmehr über das damalige Ereignis hinaus etwas, das heute immer noch da (im Foto präsent) ist – nämlich die Physiognomie des ‚ungehorsamen Körpers’ in Augenblicken von Angst, Feierlichkeit oder Solidarität unter den Protestierenden. Damit wird Seattle zu einem Teil einer größeren Erzählung, deren Thema die Folgen politischen Handelns für die Globalisierung ist.“

Den kompletten Text gibt es als pdf hier.

Diese Auseinandersetzung mit der visuellen Darstellung von Realität kann im besten Sinne zurückführen zur Darstellung der Wirklichkeit im Prozess der sozialen Medien. Dann würde daraus radical art.

Insofern enthalten die neuen Medien auch die neuen Möglichkeiten, Informationen wirken zu lassen – kritisch und unkritisch.

Und zugleich ist alles das, was ich hier bisher notiert habe, schon Geschichte. Denn Fotojournalisten in dieser Form gibt es nicht mehr, weil man so davon nicht mehr leben kann.

Und der Anti-Fotojournalismus in der 3. Dimension, der hier beschrieben wird, ist ja schon eher eine Kunstform, weil er Seh- und Denkgewohnheiten herausfordert.

Dies kann im Kleinen und im Großen geschehen.

So ist Fotokunst als Anti-Fotokunst möglich in der 3. Dimension.

Wir leben ja heute eher in der 2. Dimension beim täglichen Blick in die Medien.

Und wenn man erst mal da ist, dann ist es bis zur Ersatzrealität nicht mehr weit, die nicht Teile der Wirklichkeit zeigt sondern neue digitale Welten jenseits der echten Wirklichkeit zeigt….

Da bin ich gespannt.

Teile dieses Textes sind ursprünglich auf frontlens.de 2015 erschienen. Er erscheint mir bedenkenswert in einer Zeit, die den Überblick verliert, so daß ich ihn um neue Entwicklungen ergänzt hier publiziere.

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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