Entdecken ist ziellos
Vieles braucht seine Zeit, auch im Denken. So wie man Impulse abgibt und nach Wörtern sucht, die die Erinnerung irgendwann zurückbringt, ist es auch mit Fragen.
Was hat sich verändert und welche Auswirkungen hat dies alles?
Um den entscheidenden Moment im Sinne eines Henri Cartier-Bresson einzufangen, bedarf es einer entspannten Aufmerksamkeit. Ohne Erwartung daran zu glauben ist die Kunst.
Oder wie einmal geschrieben wurde: „Die „ziellosen Entdeckungsspaziergänge“ der Surrealisten in den Straßen von Paris beeinflussten ihn. Peter Galassi erklärt dazu in seinem Buch „Henri Cartier-Bresson, The Early Work“ (Museum of Modern Art, New York): „Allein wandert der Surrealist in den Straßen umher, ohne Ziel, aber mit einer bewussten Wachsamkeit für das unerwartete Detail, das direkt unterhalb der banalen Oberfläche eine phantastische und unwiderstehliche Realität aufdeckt…“
10 Sekunden oder der abnehmende Grenznutzen
Das war einmal. Aber was hat sich verändert und vor allem, wie wird es weitergehen?
„Die Berichte der WAP-Nachrichten, derzeit der letzte Schrei im beschleunigten Journalismus, sind so lang, dass BILD dagegen wie Proust wirkt … Dennoch haben derartige Stragien aus bereits genannten Gründen die Tendenz sich durchzusetzen. Der Grenznutzen von Information fällt nach einer bestimmten Menge von Bildern oder Wörtern dramatisch. Während der ersten zehn Sekunden ist er ziemlich hoch, aber dann?“
Diese Worte stammen von Thomas H. Eriksen aus seinem Buch „Die Tyrannei des Augenblicks“. Eriksen gibt sich und uns dabei übrigens auch die Antwort auf die gestellte Frage.
Sie führt über folgenden gedanklichen Weg: „Bruchstückhafte Information zerstört Kontinuität.“ Und dann verweist er auf einen Zustand im Land NRW vor dem Jahr 2000. Dort entdeckte er nämlich, dass es Studenten gab, die „Vollzeit“ studieren wollten, und dies ist eine Ausnahme geworden. „Man studiert nicht mehr, sondern das Studium ist ein Punkt auf dem Progamm der Erfahrungen, die das Leben eines jungen, städtischen und ungebundenen Menschen ausmachen… Diese neue Situation in der Hochschullandschaft – der fallende Grenznutzen von langsam erworbenenm Wissen“, beinhaltet auch Probleme für die Forschung.
Und lautet im Ergebnis: “ Da die Informationsmenge schnell wächst, weit schneller als die Weltbevölkerung, müssen wir unvermeidlich auf mehr eingehen… Der Grenznutzen neuer Information nähert sich der Null an. Daher erreicht man leichter ein Minimum an Aufmerksamkeit, wenn man die Information in Päckchen immer geringerer Größe verpackt … Der Augenblick ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis unseres Zeitalters. Er ist ephemer, oberflächlich und intensiv. Wenn der Augenblick (oder auch der nächste Augenblick) unser Dasein in der Zeit beherrscht, haben wir keine Verwendung mehr für Blöcke, die nur für eine oder wenige Kombinationen mit anderen Blöcken verwendet werden können. Die Eintrittskarte muss billig sein, die erste Investition gering. Schnelle Veränderung und unbegrenzte Flexibilität sind die wichtigen Aktivposten.“
Das alles hat Thomas Eriksen vor dem Siegeszug von Twitter geschrieben und dem Web 2.0. So wissen wir, dass er recht hatte.
Warten auf den nächsten Augenblick
Daraus folgt, dass das Warten auf den nächsten Augenblick entscheidend für unseren Umgang mit dem Internet und den Informationen geworden ist. Hier bedeutet es, wir warten ständig auf das nächste Foto.
In den Medien sind es also maximal zehn Sekunden, die man für die Wirkung und die Aufmerksamkeit eines Fotos einkalkuliert. Daher sind die Fotos auch so, dass sie sich nicht erst erschliessen sondern im ersten Moment wirken müssen, also total plakativ.
Das ist der Zeitgeist, der medial gilt und der von den meisten Menschen zunehmend – auch unbewusst – gelebt wird. Er schwappt in immer mehr Lebensbereiche. Eriksen zeigt dies auch im völlig taylorisierten Familienleben auf, aber das ist eine andere Geschichte.
Abschalten durch Gegensteuern, mental und physisch
Die wenigsten werden die Frage stellen, wie kommt man da raus?
Aber es geht durch eine bewusste Gegenstrategie. Dazu gehört ein gutes Buch oder die Betrachtung eines guten Fotos, am besten in einem Fotobuch.
Oder die Umsetzung der „ziellosen Entdeckungsspaziergänge“ mit einer Kamera, die gefällt und dem Ziel, die Situationen einzufangen, die dich irgendwann fotografisch beissen.
Der Sinn von Instagram und Co.
Aber eigentlich wollte ich auf etwas anderes hinaus.
Erstens bedeutet diese Analyse, dass immer mehr Fotos gebraucht werden von denen wir immer weniger wahrnehmen. Sie müssen einfach neu sein, mehr nicht.
Und zweitens bedeutet dies, dass es einen ganz erheblichen Unterschied zwischen dem Augenblick und dem Moment in der Fotografie gibt.
Man kann jeden Augenblick ein Foto machen aber es ist oft nicht der entscheidende Moment. Dies ist ein Teil des Zeitgeistes in der Fotografie.
Daraus erschliesst sich aber auch der „Sinn“ von Instagram und Co. Denn diese Augenblicksfotos füllen zunehmend die digitale Landschaft und diese Fotodienste für Handys haben dies alles in eine neue Potenz der Vermehrung gebracht.
So entsteht eine neue 1-Klick-Welt in der Fotografie, deren Sinn das Festhalten des Augenblicks ist, auch wenn es sich nicht um einen über den Augenblick hinausgehenden Moment handelt.