Leben in (m)einer untergegangenen Kultur – Fotografie und Existenz

Einige Worte von Gundula Schulze-Eldowy dringen schon viele Jahre immer weiter in mich ein, weil sie mir die Richtung zur mentalen klaren Sicht weisen:

„Mein ganzes Leben beschäftigte ich mich nämlich mit untergegangenen Städten. Berlin in einer Hundenacht und Der große und der kleine Schritt zeigen, wie ich den Untergang eines Landes und einer Kultur am eigenen Leib erfahren habe. Ich zeige den Untergang der Scheinwelt; die Verstellung, das Künstliche, die Selbstlügen—kurzum alles, was uns davon abbringt, die Person zu sein, die wir eigentlich sind.“

Blicke ich zurück auf meine Fotos der letzten Jahre, dann sind es einerseits Fotos mit sozialen Erlebnissen bei sozialen Konflikten und andererseits die Fotos danach.

Mir dämmert nun, daß nicht nur die Ostdeutschen ihr Land und ihre Kultur über Nacht verloren haben sondern auch die Westdeutschen aber nicht wegen der Ostdeutschen.

Im Prinzip habe ich es viele Jahre fotografiert aber nicht (mental) gesehen, aus welchen Gründen auch immer.

Auf einmal sehe ich auch mental klar.

Aber was ich hier aufschreibe und was für mich ein Problem ist, macht vielen anderen Menschen nichts aus und gehört auch nicht zu ihrem Leben, weil sie diesen Verlust gar nicht hatten. Ich aber schon.

Vielleicht habe ich es früher verdrängt, weil ich nicht die Kraft hatte die Konfrontation mit dem Verlust direkt mental zu suchen und die Fotografien waren unbewußt der Weg dorthin.

War die Kamera mein Werkzeug oder zumindest mein Schutz, um mich der Wirklichkeit zu nähern oder sogar beides?

Wer weiß?

Und der Schlüssel dazu sind die Worte von Gundula Schulze-Eldowy. Ich wollte vielleicht nicht wahrhaben, daß ich letztlich auf meine Art dieselben Verluste erlebte wie sie.

Wer will ich sein, wer bin ich? Fotos als Spuren der Suche?

Das neue Deutschland zeichnet sich durch eine asoziale Sozialpolitik für Arbeitnehmer mit Namen agenda2010 und ein reales bewußtes Versagen des Staates in seinen Grundfunktionen aus: Anwendung des Rechts, grundgesetzwidrige Gesetze, Bestrafung der Schuldigen, Schutz von Natur und Staatsbürgern und stabile Strukturen. Zudem wurde vieles dem „Markt“ überlassen von den regierenden Parteien unter dem Namen Liberalismus und Deregulierung und bedeutet heute das Verschwinden der Rechtskraft und wachsende Armut als Sumpf für Arme rund um die Vorfahrtsstrassen für Reiche. Das ist der Rahmen des neuen Deutschland, welches  Fleiss und Ehrlichkeit bestraft und Armut bei Arbeitslosigkeit und im Alter per Gesetz produziert. Wer es in die Rente schafft und etwas mehr als ganz wenig hat, wird dann durch doppelte Beiträge auf Sozialversicherungen und Steuern auf die politisch gewollte private Vorsorge spätestens dann wieder in die Verarmung zurückgeführt. Im neuen Deutschland ist alle persönliche Anstrengung vergebens, es sei denn man zockt im großen Stil. Dann gibt es Steuergelder.

Nun habe ich hier die Worte gefunden, um die Konfrontation und meine Fotografien zu diesem Thema einzuordnen. Das ist aber noch keine Bewältigung sondern eher eine Notiz, um mir dies immer wieder zu gegenwärtigen.

Für mich ist das existenziell.

Das lasse ich hier einfach mal so stehen weil es auf dieser Webseite am Besten passt.

Nachtrag vier Tage später:

Manchmal komme ich aus dem Staunen nicht mehr raus. Genau vier Tage nach meinem Artikel mit meinem Erkennen und Erleben veröffentlicht Wolfgang Herles ebenfalls einen Artikel online mit folgenden Worten: „Die Bonner Republik ist bereits Geschichte. Dieses tiefe Gefühl eines Verlustes ist im Osten wie im Westen zu finden. Das Gelobte Land, dem die Ostdeutschen beizutreten hofften, löste sich mit dem Beitritt ebenso auf wie die DDR. Ein Trauma – das offenbar jetzt erst spürbar wird. So ist das oft mit Traumata, manchmal brechen sie mit ganzer Wucht erst lange nach dem Ereignis auf.“

Wenn ich nicht der Gedankengeber war, dann passiert hier gerade etwas bei mir und vielen anderen, das historisch und sozial wirken wird.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

One thought on “Leben in (m)einer untergegangenen Kultur – Fotografie und Existenz

  1. Nicht nur Anwendung des Rechts sondern auch Rechtsprechung und Umsetzung, siehe die fatale Rolle des Bundesverfassungsgerichtes. Es urteilt im Sinne der Regierenden gegen den Geist des Grundgesetzes und privilegiert Beamte so, dass alle anderen dafür bluten müssen. Wow!

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