Friedrich Seidenstücker im Detail zwischen Armut und faszinierendem Augenblick

„Die letzte Zeit seines Lebens verbrachte er in einem Pflegeheim des DRK, wo er in einem 4-Bett-Zimmer untergebracht war.“ So schildert eine Weggefährtin das langsame Ende von Friedrich Seidenstücker.

Roland Klemig sicherte den Nachlass bei einem Trödler: „Den Fotokram vom Seidenstücker wollen Sie? Da stehen bei mir noch zwei Kisten. Da war wohl nur eine Schwester als Erbin als er starb. Die wollte das Zeug nicht. Hat auch eine Menge schon der Müllabfuhr übergeben.“

Diese Zitate sind aus dem Buch Fotografien von Friedrich Seidenstücker. Der faszinierende Augenblick aus dem Jahr 1987.

Als ich 2011 ein anderes Buch über ihn vorstellte, habe ich dies alles nicht gewußt und das obige Buch auch nicht gekannt.

Heute weiß ich mehr über ihn.

Denn das Buch von 1987 ist die eigentliche Biographie über einen der wichtigsten deutschen Fotografen, der leider dasselbe Schicksal erlitt wie Lewis Hine u.a.

Friedrich Seidenstücker hat einzigartig gut und breit das Leben der kleinen Leute im großen Berlin und die Industriekultur im sozialen Leben dokumentiert.

Vielleicht kann man noch Heinrich Zille in die Tradition stellen.

Aber Seidenstücker war eben mehr als Milieu.

Deshalb wird er heute auch von allen genutzt und benannt, ob bei Streetfotografie, Tierfotografie, Sozialfotografie, Industriefotografie etc.

Floris M. Neusüss hat in dem 1987 erschienenen Buch geschrieben: „Er schuf einen Bildtyp, der sich aus vielen, fast beliebig zusammengesetzten Bildern ergibt, und entnahm die Bildmotive seiner Umgebung, ohne sie mit den Mitteln der Neuen Fotografie zu überhöhen.“

Auch das stimmt – reicht aber nicht.

Denn Seidenstücker hatte seinen Blick durch seine Studienjahre geschult. Erst Maschinenbau und mit Mitte 30 dann Bildhauerei. Deshalb verdanken wir ihm wahrscheinlich auch so viele gute Fotos über Menschen in der Industrie und Arbeit.

Denn er sah das, was man nur sehen kann, wenn man dafür einen Blick entwickelt hat.

Das ist die Brille für die Motive, die meistens ohne Systematik aus den Zufällen der Begegnung entstanden.

Und dann kommt aus meiner Sicht noch der biografisch soziale Aspekt hinzu.

Je bedrückender die Motive desto verdrängender bei den Verlierern und Siegern…

Wenn ich auf die Person blicke, wird wieder einmal klar, daß Undankbarkeit der Kern der sozialdokumentarischen Fotografie ist.

Eine große Ausnahme war Robert Frank, weil er letztlich das Glück hatte, protegiert zu werden.

Er ist der Beleg, daß es nur auf das Kennen ankommt, selbst wenn man etwas kann.

Wer mehr kennt, kommt weiter als der, der mehr kann… wenn es auf´s Geld ankommt.

Davon zu leben bedeutet eher daran zu sterben.

Wenn man nicht davon und damit leben will, wird es oft leichter.

Aber warum gibt es Menschen, die es dennoch tun?

Welche Bedeutung hat der dokumentarische Impuls?

Drehen wir das Ganze doch einmal gedanklich um.

Ich möchte einfach mal fragen, waren diese hier von mir genannten Menschen zufrieden oder glücklich bei dem, was sie fotografierten und zeigten?

Und da denke ich, ich würde mit Ja antworten.

Denn niemand hat sie dazu gezwungen.

Aber was trieb sie an?

Alle hier Genannten machten ja eher mit der Fotografie das, was sie wollten und wofür sie eher nicht bezahlt wurden.

Ich habe im Gedächtnis den Hinweis gefunden, daß man oft nach dem sucht, was man vermisst oder was einen besonders bewegt.

Zugespitzt habe ich mal gefragt, ob Streetfotografie Ersatz für fehlende Liebe ist?

Grob gesagt sehe ich hier:

  • Lewis Hine war von Armut geprägt,
  • Ernst Friedrich war vom Schrecken des Krieges geprägt,
  • Robert Frank erlebte die Staatenlosigkeit,
  • Friedrich Seidenstücker war sehr allein.

Wenn ich diesen Satz nun umdrehe wird daraus:

  • Lewis Hine suchte den Wohlstand,
  • Ernst Friedrich suchte den Frieden,
  • Robert Frank suchte die Heimat,
  • Friedrich Seidenstücker suchte die Zuneigung/Zufriedenheit.

Ob das so stimmt, weiß niemand. Ob das falsch ist, weiß auch keiner.

Man darf auch nicht die menschlichen Mechanismen vergessen, die z.B. George Orwell in der Animal Farm so genau beschrieben hat…

Auf jeden Fall ist interessant, daß z.B. bei Friedrich Seidenstücker auf den Fotos sehr oft Menschen in Momenten zu finden sind, in denen sie zufrieden mit ihrem Tun sind oder entspannt aussehen – selbst bei der Arbeit.

Da ich mir diesen Zusammenhang erst durch Lesen und Nachdenken erarbeitet habe, muß ich nun abwarten, ob mich dies alles noch gedanklich weiterführt als Zwischenstation auf einem nie endenden Weg…

Aber bis hierhin war es schon ein gutes Stück der Strecke mit viel Lesen und viel Fotografieren und  Reflektieren.

Nun ist es Zeit für eine Pause.

Text V2.0

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About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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