Warum Dokumentarfotografie oder Lewis Hine zwischen Frustration und Ungerechtigkeit

Peter Dench schreibt im Amateurphotographer am 7.11.23:

„Im September 1969 brachte The Architectural Review Manplan heraus: acht Sonderausgaben, die in der Geschichte des Architekturverlags einzigartig sind. Jede Ausgabe war einem einzelnen Bereich menschlichen Handelns gewidmet, der als von Design- und Planungsentscheidungen betroffen angesehen wurde. Gastredakteure wurden zusammen mit speziell beauftragten Fotojournalisten eingeladen, das Thema jeder Ausgabe zu artikulieren. Seiten voller menschlicher Dramen, oft in düsteren Situationen, stellten eine radikale Abkehr von der großformatigen Fotografie architektonischer Juwelen dar, die auf hellen, sauberen Seiten veröffentlicht wurde, die die Leser erwartet hatten. Manplan 1 war wohl der einflussreichste der Reihe und war ein starkes Argument dafür, Planung und Architektur ganzheitlicher zu betrachten und die Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Unter dem Titel „Manplan: Frustration“ erhielt der Fotograf Patrick Ward, damals Anfang 30, vom Serienredakteur Tim Rock und seinem Team einen relativ offenen Auftrag, Bruchstellen innerhalb der britischen Gesellschaft zu dokumentieren: versagende Infrastruktur, industrielle Unruhen, heruntergekommene Wohnverhältnisse und Probleme im Zusammenhang mit Bildung , Verkehr, Religion, Gesundheit und Freizeit.“

Im Original:„In September 1969 The Architectural Review launched Manplan: eight special issues that are unique in the history of architectural publishing. Each issue was devoted to an individual area of human activity that was considered affected by design and planning choices. Guest editors were invited together with specially commissioned photojournalists to articulate the theme of each issue. Pages of human drama often in bleak situations were a radical departure from large-format photography of architectural gems published across bright clean pages that readers had come to expect. Manplan 1 was arguably the most impactful of the set and made a strong case for looking at planning and architecture in a more holistic way that put society first. Titled Manplan: Frustration, photographer Patrick Ward, then in his early 30s, was given a relatively open brief by series editor Tim Rock and his team to document breaking points within British society: failed infrastructure, industrial unrest, dilapidated housing and issues relating to education, transport, religion, health and leisure.“

Solche Texte gibt es in deutschen Publikationen über Fotografie überhaupt nicht. Ich finde die Seele der Fotografie in Publikationen fast nur jenseits von Deutschland.

Die Ausführungen von Peter Dench enden nach vielen Seiten so:

„Lewis Hine, der wegweisende amerikanische Dokumentarfotograf, schrieb über seine Arbeit: „Immer das menschliche Dokument, um Gegenwart und Zukunft mit der Vergangenheit in Kontakt zu halten.“ Für mich bringt das die Bedeutung der sozialdokumentarischen Fotografie auf den Punkt. Es ermöglicht uns, über die menschliche Verfassung nachzudenken und stellt unser Denken über die Welt, in der wir leben, und darüber, wie viel oder wenig sich im Laufe der Jahrzehnte verändert hat, in Frage. Wards Fotografien sind ein hervorragendes Beispiel und der Grund, warum ich veröffentliche. Seine Fotografien für Manplan stammen noch aus meiner Zeit und sind eine deutliche Erinnerung daran, warum es wichtig ist, in die Gesellschaft und die gebaute Umwelt zu investieren. Die Botschaft von 1969 ist weitgehend unbeachtet geblieben. Lernen wir aus den Fehlern der Vergangenheit? Eine 2023-Version von Frustration wäre ein interessantes Projekt, aber zumindest haben wir Patricks wichtige Fotoessays, die auch heute noch Anklang finden“, schließt Wilkinson.“

Im Original: „Lewis Hine, the pioneering American documentary photographer, wrote about his work: “Ever the human document to keep the present and future in touch with the past.” To me, this sums up the importance of social documentary photography. It allows us to reflect on the human condition and challenges our thinking about the world we live in and how much or little has changed over the decades. Ward’s photographs are an excellent example and the reason why I publish. His photographs for Manplan are well within my lifetime, a stark reminder of why it’s important to invest in society and in the built environment. The message of 1969 is a message that has been largely unheeded, do we learn from the mistakes of the past? A 2023 version of Frustration would be an interesting project but at least we have Patrick’s important photo essays that still resonate today,’ concludes Wilkinson.“

Man stelle sich vor, ich würde Fördergelder für ein fotografisches Projekt beantragen (bei ca. 200 Millionen Euro, die vergeben werden) über die Dokumentation von Frustration in Deutschland bei Städteplanung, Fehlplanung und strukturellen Aufbrüchen.  Das wäre zwar Demokratieförderung aber jenseits von Gender und Grün.

Das wird es aber in diesem Land wohl nicht geben. Dazu gibt es hier zu wenig Demokratie.

Aber das gab es in Großbritannien trotz Adel und Armut.

Und wie man bei Peter Dench lesen kann, hat dies zwar keine Wunder bewirkt, aber gezeigt warum sozialdokumentarische Fotografie wichtig ist. Sie zeigt im wahrsten Sinne des Wortes die Verbindung zwischen gestern, heute und morgen.

So kann dann auch Geschichtsbewusstsein entstehen, weil man sieht, wie es eigentlich gewesen ist.

Das ist auch der dokumentarische Impuls, der Menschen von innen heraus zu dieser Art von Fotografie bringt.

Und so ist Frustration oft eine starke Antriebsfeder – fotografisch und im Leben.

Übrigens starb Lewis Hine völlig verarmt…

„Hine bringt es – ebenso wie seine Kollegen – nicht zu Reichtum. In den dreißiger Jahren lebt er von der Hand in den Mund: fast täglich sucht er nach einem Auftraggeber. 1938 hat er keinen Dollar. «Survey Gra-phic», eine Monatszeitschrift (seit 1921), für die er dreißig Jahre lang gearbeitet hatte, gibt ihm 50 Dollar: Vorschuß für
«zukünftige Arbeiten». Die Organisation ist selbst in Schwierigkeiten.
Zwar wollen Bibliotheken, Sammler und Museen Hines Fotos haben – aber ohne Geld. Und Hine ist in der Zwangslage: er möchte, daß sich die Botschaft seiner Fotos verbreitet. Zugleich hat er für seine schwer asthmakranke Frau zu sor-gen. Seinem Haus in Hastings-on-Hudson droht die Zwangsversteigerung.
Zwei Jahre lang hält ihn der Organisator der Farm Security Administration, Roy E. Stryker, hin. Obwohl dessen Budget für die umfang. reiche Fotodokumentation gewachsen ist. Stryker behauptete, es sei schwierig, mit Hine zu arbeiten – 0bwohl dieser als sehr freundlicher Mann beschrieben wird. Und Stryker meint, Hine habe seine besten Tage hinter sich.
Die Guggenheim Foundation lehnt ein Projekt ab. Ebenso die Carnegie Foundation.
Keine Illusion über die Stiftungen reicher Leute!
Hine bleibt nichts anderes übrig als zum Wohlfahrtsamt zu gehen. Er bekommt 5 Dollar. In diesem Elend stirbt 1938 seine Frau Sara Rich Hine. Dies alles geschieht zu einer Zeit, in der Hines Werk wachsende Anerkennung findet, ihn Schreiber, Magazine und Kulturinstitutionen ent-decken. Die Leute, die ihn zeitlebens ignoriert (wie Alfred Stieglitz) und abgewiesen hatten (wie Roy Stryker), schwingen sich – als «Sponsoren» von Ausstellungen – auf den fahrenden Zug des Ruhms. Die Trittbrettfahrer sind auch hier noch Geier, die die Leiche fleddern.“
So schildert Roland Günther dies in seinem Buch Fotografie als Waffe.

Es sind eben keine Erfolgsgeschichten, die das Leben schreibt aber Blicke auf die Wirklichkeit, die das eigene Bewusstsein erweitern können, um die Welt so zu sehen wie sie ist.

Zuguterletzt lohnt sich auch ein Blick auf die Webseite von Peter Dench – klasse Fotos und Reportagen!

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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