Betrachtungen eines Ent-täuschten

Ich bin wieder da wo alles anfing – nur 25 Jahre älter und in anderen Lebensumständen.

Am 15.3. 1999 begann der Kampf um Mannesmann in Remscheid vor fast genau 25 Jahren.

Dies war der Übergang in die Zeit als ich mit der Dokumentarfotografie begann.

Das ist heute alles Geschichte.

Damals wollte ich dies alles nicht nur aufschreiben sondern auch mit Fotos dokumentieren.

Im Jahre 1999/2000 gab es aber nur kleine Digitalkameras mit 2 Megapixel zu kaufen, die unterwegs vor Ort direkt nutzbar waren.

Das waren die Werkzeuge für die digitale visuelle Aufzeichnung.

Und es gab im Jahr 1999/2000 kaum Internetseiten und noch weniger Internetanschlüsse.

Das ist heute fast unvorstellbar für die, die erst seit 20 Jahren leben.

Aber die damaligen digitalen Fotos sind bis heute die einzigen erhaltenen Originalquellen und sie sind bis heute so aktuell wie damals.

(Sie können auch heute diese Fotos größer sehen, wenn Sie die Bildschirmauflösung an einem PC mit Monitor verändern auf 800×600 Pixel. Das ist bei Windows Rechnern kein Problem, einfach Anzeigeeinstellungen und dann die Auflösung wechseln. Dann wird deutlich, daß es damals ganz gut anschaubar war und heute noch ist.)

Ich habe seitdem mit immer neuen Digitalkameras versucht, bessere Bilder zu machen, weil es ja mit den kleinen Kameras durch technische Einschränkungen bei ISO und co viele Probleme gab.

Und natürlich sind heute Fotos mit großen Digitalkameras oder modernen Smartphones technisch „besser“, weil sie schärfer und größer sind.

Aber als ich nun die DC202 von Sonida in der Hand hatte, wurde mir klar, daß ich mit neueren Kameras  keine besseren Motive gefunden hätte.

Es ging ja um das Aufzeichnen wichtiger sozialer Momente. Und da sind die Fotos von damals als Dokumente des Zeitgeschehens vor Ort noch ebenso gut wie es neuere Fotos heute wären.

Hätte ich damals die DC202 schon gehabt, wären die Fotos größer als 800×600 Pixel geworden.

Rückblickend haben sich aus historischer und fotografischer Sicht die Fotos gelohnt, weil ich heute noch Momente sehe, die ich festhalten konnte.

Aber nach 25 Jahren wird mir auch deutlich, was alles nicht wirklich erforderlich wäre.

Wenn ich nun genauer auf das obige Foto blicke, dann steht da links die Fuji X100 von 2011 (12Jahre nach den Fotos). Die hat damals ca. 1000 Euro gekostet. Daneben steht die DC202 von 2023 für 40 bis 120 Euro, die ich 1999 gerne gehabt hätte.

Das sind kameratechnisch Welten. Aber gäbe es die Fuji X100 nicht, müßte ich mit der DC202 auskommen, um mal pars pro toto zu sprechen.

Und dann sind wir ja noch nicht bei den Smartphones.

Bleibe ich bei einem aktuellen Smartphone, dann wäre das Moto Edge 30 neo für heute gut 200 Euro schon bildtechnisch wesentlich besser als alle früheren Digitalkameras aus der Zeit vor 25 Jahren.

Klar geht die Technik weiter.

Aber zum Dokumentieren des sozialen Lebens und für mich mit dem Blick des Historikers war die damalige Technik ausreichend.

Allerdings war ich immer unzufrieden und glaubte, die Technik reicht nicht für  gute Dokumentarfotografie.

Heute stehe ich hier und merke, die Technik hat immer gereicht.

Nun betrachte ich einmal meine aktuelle Ausrüstung. Es handelt sich um die Osmo Pocket 3, die Lumix S5, die Ricoh GR II und das Samsung S22.

Dies alles ist zusammen ein kompletter Satz fotografischer Möglichkeiten für fast alle Gelegenheiten. Ich kann damit jeden Pups der Welt in bester Qualität fotografieren oder filmen.

Besser war ich nie ausgestattet.

Und?

Was kann ich denn damit wirklich mehr aufnehmen?

Und welchen Spaß macht es heute fotografisch besser zu sein?

Verwackelungsfrei fotografieren finde ich gut, immer schärfer eher nicht, so daß meine Sicht eher gemischt ist.

Ich bin ent-täuscht mit Bindestrich, weil ich mich von den Täuschungen befreien mußte.

Besser ist nicht immer schöner oder kreativer oder spannender.

Es ist für mich oft langweiliger.

Das Unperfekte, das Eingeschränkte, das Nervige ist für mich viel spannender, erhöht den Reiz und strengt positiv mehr an.

Die „Spielzeugkamera“ hat mir die jahrelangen Täuschungen weggenommen und mir so vor Augen geführt wie viel besser es war, unperfekt zu bleiben und nicht länger zu glauben, ich würde mit neuem Equipment automatisch „besser“ fotografieren.

Im Grunde ist es die Fortsetzung des Mottos von Lensbaby “We are the enemies of perfection“ (wir sind die Feinde der Perfektion) beim Fotografieren sozialer Situationen, wobei Lensbaby Objektive eher nicht zur Dokumentation geeignet sind aber für kreative Fotos.

Es kommt eben auf die Motive an, die Kamera, die in sozialen Situationen dabei ist und das, was möglich ist und angemessen.

Abschließend muß ich gestehen, daß mir dieser Rückblick Spaß gemacht hat.

Er schließt nämlich nicht aus, daß ich aus Spaß an der Technik Neues nutze, aber ich brauche es nicht, um besser zu fotografieren.

 

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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