
Wir leben heute in der Zeit nach dem Erinnerungsvermögen. Unser Bewußtsein wird mit überall anzutreffenden Fotos gefüttert, die uns die neue digitale Wirklichkeit zeigen.
Es sind alles Augenzeugenillusionen, weil wir nicht dabei sind.
Und wir können eigentlich fast nirgendwo dabei sein.
Diese Gewißheit ist so selbstverständlich, daß wir sie als „normal“ empfinden und uns zunehmend auf das verlassen, was wir sehen.
Wir sehen direkt die Bilder der digitalen Welt und halten sie für wahr obwohl sie eigentlich nur wirklich da sind ohne das tatsächliche Geschehen abzubilden.
„Die Begriffe von Wahrheit und Wirklichkeit, die der Produktion und Konsumption des Dokumentarischen zugrunde liegen, sind damit keineswegs als neutral und überzeitlich, sondern als Teil gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu lesen, die diese verhandeln und definieren“, schreibt Karen Fromm.
Und die sehen heute so aus: „Eine kapitalistische Gesellschaft braucht eine Kultur, die auf Bildern basiert. Sie muss unentwegt Unterhaltung bieten, um zum Kauf anzuregen und den Schmerz der Wunden zu betäuben, die durch Klassen-, Rassen- und Sexualprobleme gerissen werden. Und sie muss unbegrenzte Mengen an Information sammeln, um desto besser die natürlichen Quellen ausbeuten, die Produktivität steigem, die Ordnung aufrechterhalten, Krieg führen und Bürokraten mit Jobs versorgen zu können. Durch ihre Fähigkeit, die Realität einerseits zu subjektivieren und andererseits zu objektivieren, entspricht die Kamera diesen Bedürfnissen in idealer Weise und trägt gleichzeitig zu ihrer Verstärkung bei. Die Kamera definiert die Realität auf zwei Arten, die beide von entscheidender Bedeutung sind für das Funktionieren einer hochentwickelten industriellen Gesellschaft: als Schauspiel (für die Massen) und als Objekt der Überwachung (für die Herrschenden). Überdies schafft die Produktion von Bildern eine beherrschende Ideologie. An die Stelle des gesellschaftlichen Wandels tritt ein Wandel der Bilder.“
Das schreibt Susan Sontag. Und John Berger ergänzt: „Wir sind umgeben von fotografischen Bildern, die ein globales System der Fehleinschätzung bilden: das als Werbung bekannte System, das konsumfördernde Lügen verbreitet….Die Röntgenaufnahme eines verletzten Beins kann die »reine Wahrheit« darüber mitteilen, ob die Knochen gebrochen sind oder nicht. Aber wie teilt eine Fotografie die »reine Wahrheit« über die Erfahrung menschlichen Hungers oder umgekehrt die Erfahrung eines Festmahls mit? Auf einer bestimmten Ebene lässt sich keine Fotografie in Frage stellen. Alle Fotografien haben den Status einer Tatsache. Was untersucht werden muss, ist, auf welche Weise Fotografie Tatsachen einen Sinn geben kann – oder auch nicht.“
Das ist eine der Herausforderungen, die zum mündigen Bürger führen.
Es ist der Weg aus der Matrix.
Aber wer wird ihn gehen?
One thought on “Vor der Fotografie war das Erinnerungsvermögen”