„Eine vergleichbare Art von Verkommenheit findet sich auf fast allen modernen politischen Karikaturen, die ihren unmittelbaren Zweck überlebt haben. Es braucht kein Nazi-Deutschland, um solchen Ekel heraufzubeschwören.
Am einfachsten und deutlichsten sieht man diese Stärke auf den großartigen Porträt-Karikaturen von Daumier. Sie zeigen die tiefste allgemeingültige Reaktion auf das ganze Getue der modernen Politik. Wir sollten verstehen, weshalb.
Es ist der Ekel vor jener Art der Verkommenheit, die jene ausströmen, die politische Macht besitzen. Die Verkommenheit dieser Individuen ist keine Bestätigung der allgemeinen Regel, nach der Macht korrumpiert. Es ist ein bestimmtes historisches und politisches Phänomen, das in einer Theokratie oder einem abgesicherten Feudalsystem so nicht hätte entstehen können. Man musste dazu das Aufkommen der modernen Demokratien abwarten und der zynischen Manipulation ihrer Grundsätze. Die Verkommenheit zeigt sich besonders häufig, aber nicht ausnahmslos, in der Politik der Spätbourgeoisie und im fortgeschrittenen Kapitalismus. Sie wird genährt von der Kluft zwischen den Zielen, die ein Politiker für sich reklamiert, und den Taten, die er tatsächlich bereits beschlossen hat.
Die Verkommenheit entsteht nicht aus persönlicher Niedertracht oder Heuchelei an sich. Eher entsteht sie aus der Selbstsicherheit des Manipulators, aus seiner Gleichgültigkeit gegenüber den ins Auge springenden Widersprüchen zwischen seinen Worten und Taten, zwischen seinen noblen Gefühlen und der routinierten Praxis. Sie nistet in seinem selbstgefälligen Vertrauen in die verborgene, undemokratische Macht des Staates. Vor jedem öffentlichen Auftritt weiß er ganz genau, dass sich seine Worte allein an jene richten, die er überzeugen kann, und dass es mit denen, die ungerührt bleiben, keine Verhandlung geben wird. Beobachte diese Verkommenheit bei der nächsten Übertragung von irgendeinem Parteitag.“
Diese Gedanken sind aus Der politische Gebrauch der Fotomontage, in John Berger, Der Augenblick der Fotografie, S. 42/43
Wer fotografisch denkt, ist mitten im Leben. Und mit diesem Blick ist man dann auch politisch. John Berger schreibt so als ob er Schopenhauer und andere gelesen hätte. Hat er vielleicht auch.
Mit dieser Anleitung fotografieren beim Fernsehen oder sogar live – was für großartige Fotos könnten da entstehen….