Das einzig Beständige ist der Wandel. Menschsein bedeutet sich ununterbrochen auf die Lebendigkeit einzustellen und zugleich zu versuchen, Elemente der Beständigkeit im eigenen Verhalten durch Regeln, Rhythmen und Routine zu leben, um damit zurechtzukommen. Das ist übrigens die Anpassung an die uns umgebende Natur, die ebenfalls in Rhythmen lebt. Wir sind eben ein Teil davon und stehen nicht über ihr.
Daraus ergibt sich folgendes:
- Wiederholungen von Handlungen und
- vorhandene Menschen mit ihrem Verhalten im öffentlichen Raum
sind bei einer sozialen Landkarte das, was man vorfindet im Raum und in der Zeit, die man selbst wahrnimmt.
Und Bedeutung erlangen die Dinge dann, wenn man sich daran erinnert.
Ich möchte dies mit diesem Foto mitten aus dem Leben verdeutlichen.
Was sehen Sie auf dem Foto?
Sie sehen ein Paar, das sich an der Hand hält. Aus der Kleidung und daraus, daß Mann und Frau sich so verhalten, können Sie erkennen, aus welcher Kultur und Zivilisation das Paar stammt.
Das Foto zeigt Mann und Frau in einem abendländischen Zusammenhang. Ihre Geste ist ebenso eindeutig, aber nur in unserem Kulturkreis verstehbar.
Hier enden die Informationen, die direkt dem Foto entnehmbar sind.
Nun erzähle ich mehr.
Dieses Paar fuhr fast täglich mit dem Bus und lief auf dem Rückweg immer diese Straße entlang. Jeder, der tagsüber dort war, sah sie irgendwann. Sie lebten sehr intensiv miteinander im öffentlichen Raum.
Wenn man die Straße entlang ging oder mit dem Bus fuhr, dann erinnerte man sich immer an das Ehepaar. Sie gehörten also zu dem Raum dort und waren Bestandteil des eigenen sozialen Gedächtnisses und der sozialen Landschaft, die in dieser geografischen Landschaft im öffentlichen Raum vorhanden war.
Und dann verstarb eine Person. Plötzlich waren sie nicht mehr Teil der sozialen Landschaft.
So verschwindet das Gesicht der sozialen Landschaft, die mich umgibt und wird anders. Das ist bei allen Menschen so und damit ein Teil des Menschseins. Aber jeder hat dabei seine eigene soziale Landschaft.
Das Foto bleibt, aber es hat ohne zusätzliche Informationen keinerlei Bedeutung.
Diese Bedeutung muß ich dem Foto geben, weil es meine soziale Landschaft ist.
Nur durch das Aufschreiben wird dieser kleine Teil dauerhaft über mich selbst hinaus dokumentiert. Denn die soziale Landschaft hat sich schon wieder verändert, andere sehen anderes, und das hier ist vorbei.
Und meine soziale Landschaft endet mit meinem Ende.
Ich entscheide allein, ob ich dies als Teil meiner wahrgenommenen sozialen Landschaft sehe und speichere. So dokumentieren sich Zustände der eigenen Existenz im wahrgenommenen Umfeld.
Niemand außer mir wird sich jemals (wahrscheinlich) für dieses Foto interessieren. Aber durch diesen Artikel möchte ich daran erinnern und zeigen, was soziale Landschaft ausmacht. Gebäude und Ruinen sind tot ohne Erinnerungen an das soziale Leben. Daher ist die fotografische Abbildung der Stadtlandschaft das Eine und die Abbildung der sozialen Landschaft der eigenen Zeit das Andere.
Es sind die Spuren im Sand, die wir sehen bis zur nächsten Welle, die uns mitnimmt.
Aber sie können im zeitlichen Verlauf betrachtet dann doch wiederum sehr viel aussagen und deshalb ist es gut, daß es die Fotografie und die Schrift gibt.
So entsteht ein Mosaik der sozialen Landschaft wie ich sie sehe und erlebt habe.
Ich gehe sogar so weit zu sagen, daß außerhalb eines konstruierten Films, der eine soziale Landschaft verdichten kann, die Fotografie die Voraussetzung für die Dokumentation sozialer Landschaften ist in einer Zeit der absoluten Unbeständigkeit – natürlich nur fragmentarisch aber so, daß daraus ein Bild rekonstruierbar wäre, das über die Wahrnehmung des Einzelnen hinausgeht.
Und das ist wiederum sehr interessant – zumindest finde ich das, wenn ich solche Fotos betrachte.
Zugleich ist es dokumentierte Gegenwart, die zur Geschichte geworden ist.
Die Geschichte des Alltags und der eigenen Lebenszeit im öffentlichen Raum.
So gibt man dem Augenblick Dauer aber nicht unbedingt eine Bedeutung über sich selbst hinaus.
Es kann aber gelingen, sich durch diese Art des Fotografierens selbst zu positionieren.
Und das kann im besten Fall zu einem neuen Verhältnis zur Wirklichkeit führen…