Das Buch ist beeindruckend. Es ist ein kleiner Schatz der Fotografie und Literatur. Dieses Buch ist dokumentarische Fotografie und dokumentarische Literatur und Geschichtsbuch in einem Band.
Wer jemals im Osten vor 1989 war und/oder auch in der Tschechoslowakei, der findet hier wieder, was man selbst gesehen hat und noch viel mehr. Denn das Buch berichtet über die Zeit bis 1989 und die Zeit nach 1989.
Dies ist der zweite Band der Reihe starfruit publications, die außergewöhnliche Formen der Zusammenarbeit zwischen zeitgenössischen Autoren und Künstlern präsentiert. Die Kooperation zwischen dem Dokumentarfotografen Karel Cudlin und dem Schriftsteller Jáchym Topol ist mehr als gelungen.
„In diesem Land gab es keinen Terror. Wer nicht aufbegehrte, der konnte in Ruhe leben, wir kannten keine Armut, nur Mangel. Schwarzmarkt, Valutenschieberei, Tauschhandel. Kellner, Taxifahrer, Fleischer, Gemüsehändler – das war der sozialistische Adel.“
So schreibt Jáchym Topol im Kapitel über „Stehimbisse, Läden, Anstehen, Einkaufstaschen“.
Hier berichten zwei Reporter, der eine mit dem Bild und der andere mit dem Buchstaben. Sie sammeln Eindrücke und Erlebnisse in Ländern und Städten, die früher hinter der Mauer waren.
Aber das Buch ist nicht nur Geschichte, es ist auch aktuell. Viele Fotos zeigen das Leben in Lodz, Karabach, Solotvino, Baku, Blansko und an anderen Orten.
Die Texte machen aus den Geschichten der Fotos neue Geschichten hinter den Fotos und andere Geschichten neben den Fotos.
Dabei strahlt das gesamte Buch eine Ruhe aus, die ich selten in einer Veröffentlichung gefunde habe. Und es berichtet trotzdem über das, was uns Menschen gerade passiert.
„Das, was in Baku passiert ist, ist ein Paradebeispiel für die grauenvolle Art, wie der Mensch mit den von ihm entdeckten Bodenschätzen umgeht. Auch wenn man die kaputte Landschaft direkt in Augenschein nimmt, kann man den Grad der Umweltverschmutzung kaum ermessen. Es ist ein riesiger Schauplatz der Zerstörung, ein anschauliches Bild dafür, wie sich der Mensch der Ressourcen der Natur bedient, ohne darüber nachzudenken, was später passieren soll. … Eine Landschaft, die im Sterben liegt.“
Es sind solche Texte und die Bilder dazu, die zeigen, dass Literatur und Bildreportagen heute wichtiger denn je sind. Dieses Buch ist ein kulturhistorischer Schatz. Das gilt auch für das Layout und das gesamte Projekt.
Vor dem Verschwinden der Mauer, beim Verschwinden der Mauer und nach dem Verschwindern der Mauer erlebt man Menschen und Geschichten.
Wie man in Prag den Einzug der Ostdeutschen in die westdeutsche Botschaft erlebte, wie McDonalds nach Most kam, wie die neue Freiheit zur Suche nach Arbeit führt.
Es ist ein beeindruckendes Dokument als persönlicher Erlebnisbericht, als dokumentarische Fotografie und als literarisches Dokument. Vielleicht liegt es an der Übersetzung, aber die Sprache ist oft so leicht, daß es fast schon ein Vergnügen ist, den Worten zu folgen.
Und so ist dem Verlag ein Buch gelungen, welches sehr selten und sehr kostbar ist. Es ist ein kluges Buch und es dokumentiert den Wandel, der sich gerade vollzieht oder wie es so schön heisst, das Buch „leitet den Leser auf den Pfaden der Sprache in eine Welt, die so vielleicht schon bald nicht mehr sichtbar sein wird.“
Doch durch die Fotos sehen wir sie heute noch. Dieses Buch lohnt sich für Menschen, die denken und die spüren können. Es ist ein selten gutes Buch.
Jáchym Topol / Karel Cudlin
Unterwegs in den Osten
Herausgeber: Manfred Rothenberger und Kathrin Mayer
Aus dem Tschechischen von Eva Profousova
ISBN 978-3-922895-21-3