Philip Blenkinsop hat darauf hingewiesen, daß Fotografen nicht zu den Wurzeln der Wirklichkeit gehen, wenn sie damit kein Geld verdienen können. Umgekehrt gehen sie dorthin wo sie Geld verdienen, in seinen Worten: „Photographer do not go to the sources, they look what can be sold.“
Einen anderen Aspekt für die blinden Flecke in der Dokumentarfotografie hat Stephen Mayes genannt: „Ein bedeutender Teil der Realität bleibt auf der Strecke. Vermutlich sind Konventionen der Grund.“
Und er nennt ein Beispiel: „Dennoch glaube ich, dass es viele unwichtige Themen gibt, die enorm überrepräsentiert sind. Ein Beispiel war das Thema Drogen. Es gibt ein unglaubliches Problem der Drogensucht in der Mittelklasse in Nordamerika und Europa. Doch darüber wird nicht berichtet. Berichtet wird über arme Drogensüchtige. Als ob Drogengebrauch ein Thema der Armen, der verelendeten Gegenden ist.“ (in photonews 4/12).
Und damit kommen wir zum digitalen Paradoxon. Es entstehen immer mehr Fotos von immer weniger Themen. Was mir bei meinen Streifzügen durch die digitale Welt aufgefallen ist, hat Stephen Mayes, Geschäftsführer eine Agentur für „Konfliktfotografie“, auf die Formel gebracht, dass 90 Prozent der Nachrichten sich mit 10 Prozent der Welt beschäftigen.
Die Fotografin Isolde Ohlbaum äußerte sich in einem Interview bei stern.de zum Thema Fotografie folgendermassen:
„Würden Sie Bauarbeiter fotografieren?
Das könnte ganz reizvoll sein. Die haben ja zum Teil interessante Gesichter. Oft sehen sie gar nicht aus wie Bauarbeiter. Auch bei der Müllabfuhr finden sich manchmal überraschende Männer.
Müllmann-Porträts von Ohlbaum. Spannend.
Auch Toilettenfrauen!
Würden Sie das machen: Einen Band über Klofrauen?
Warum nicht! Aber wer will das kaufen?“
Diese drei erfahrenen Fotografinnen und Fotografen haben uns erklärt, warum die Namenlosen und Unsichtbaren keine Aufmerksamkeit erfahren.
Es geht um´s Geld.
Das war in England und den USA einmal anders.
Das ist auch anders als bei NGO´s weil es hier um die eigene Gesellschaft geht.
Für das Thema Armut ist das sogar untersucht und dokumentiert.
Lena Mann und Jana Tosch schreiben dazu: „Je näher Armut dem westlich-weiß dominierten Kulturkreis rückt, desto unsichtbarer wird sie.“
Weil es um´s Geld geht wird Armut nicht fotografiert. Denn das würde ja Geld kosten und dazu führen, daß es ein Thema wird und vielleicht für die Abschaffung der Armut Geld ausgegeben werden müßte!!!!?!
Aber wenn man etwas verändern will für die Menschen, um diese Ungerechtigkeit zu reduzieren und mehr Stabilität in die Demokratie zu bringen, dann müßte genau dafür Geld eingesetzt werden.
Aber wer will schon die Demokratie stärken und die Gesichter der Menschen sehen, die nicht reich und schön sind oder sich entblößen? Da sind wir bei den Konventionen.
Die Fotografie kann dies ändern und heute ist sie das mächtigste Werkzeug um etwas zu ändern, weil die Bilder das Bewußtsein schaffen können – nicht allein und dauerhaft aber immer wieder.
Wenn man das zu Ende denkt, dann lande ich bei Dieter Hacker und Susan Sontag:
„Befreit davon, Waren produzieren zu müssen wie der Profi, hat der Amateur die Chance, durch seine Arbeit zu wichtigen Einsichten zu kommen und sie, unberührt von den Interessen professioneller Multiplikatoren vermitteln zu können. Was dem Berufskünstler kaum gelingt, nämlich die Realisation seiner Intentionen; was ihm deshalb nicht gelingt, weil sich aus dem wahren Charakter des Kunstwerkes Zwänge ergeben, denen er sich schwer entziehen kann, ist für den Amateur kein Problem, denn er muß von seiner Amateurarbeit nicht leben.
Amateurarbeit, die sich von ihrer Fixierung an die Arbeit der Profis befreit, könnte eine Ahnung davon vermitteln, was nicht entfremdete Arbeit ist und so eine wichtige Utopiefunktion erfüllen. Nicht vergessen: die Revolution ist die Arbeit von Amateuren.“
„Das hätte zur Folge, daß die Theorie der Fotografie sich zur eigentlichen Gesellschaftstheorie ausbreiten muß.“
2 thoughts on “Unbeachtet und vergessen oder warum 90 Prozent der Wirklichkeit nicht fotografiert werden”