Fotografen und Historiker

Man findet immer wieder Gedanken, die inspirieren. Ich wurde ja aus der Situation heraus mit dem Auge des Historikers als Dokumentarfotograf tätig.

Und nun finde ich in der Einleitung des Buches „Und plötzlich ist die Welt eine andere“ von Tanja Stelzer und Wolfgang Uchatius folgende Gedanken:

„Fotografen haben es leichter als Historiker. Wenn ein Fotograf durch seine Kamera schaut, kann es sein, dass das Objektiv nur einen einzelnen Menschen erfasst, vielleicht nur dessen Gesicht, ein schreiendes Gesicht womöglich, verzerrt von Wut und Verzweiflung. Der Fotograf kann dann die Brennweite auf Weitwinkel stellen und so den Ausschnitt vergrößern, andere Menschen mögen ins Bild kommen, die ebenfalls schreien, Plakate, auf denen «Nein zum Krieg» steht, Flaggen mit den Farben Russlands und der Ukraine, Polizisten in schwarzen Uniformen, die Demonstranten über den Asphalt schleifen, und plötzlich werden die Zusammenhänge klar. Hier protestieren Russen gegen den russischen Krieg, die russische Regierung, den russischen Präsidenten.

Historiker haben keinen Objektivring, an dem sie drehen können, um die Verbindungen zwischen den Dingen zu erkennen, sie können ihren Blick nicht auf Weitwinkel stellen. Oder eigentlich doch. Aber dafür müssen sie warten. Wochen, Monate, manchmal Jahre. Dann, in der Rückschau, treten Ursache und Wirkung zutage, werden Motive und Muster deutlich, lässt sich die wahre Bedeutung von Ereignissen ausmachen. Die zeitliche Distanz ist das Weitwinkelobjektiv der Geschichtsforschung, und deshalb wird es noch ein wenig dauern, bis man wissen wird, ob die Proteste gegen Wladimir Putin eine Ausnahmeerscheinung waren, ein kleines Ereignis ohne Widerhall. Es wird dauern, bis man wissen wird, ob die russische Zivilgesellschaft weitgehend verstummt.“

Ich stand auch vor diesen Herausforderungen. Einerseits sah ich die Ereignisse, die zu Entwicklungen wurden und andererseits wußte ich natürlich nicht, wie es weitergeht. Aber gut geht es eigentlich nur in Köln aus…

Als die Industrieregion Bergisches Land mit Wuppertal, Remscheid und Solingen zehntausende von Arbeitsplätzen verlor, war ich damals mittendrin statt nur dabei.

Es war schwerpunktmäßig grob der Zeitraum von 2000 bis 2010.

Wie sollte man das in Worte fassen?

Ich wollte es nicht nur verbal sondern auch visuell aufzeichnen, wenn ich es schon nicht verhindern konnte.

Ich versuchte es mit Fotos und daraus wurde dann einige Jahre später ein kleines Video als Rückblick auf die Ereignisse, das die Entwicklungen zusammenfasste und zugleich zeigte, was da war und was zerstört wurde.

Ich nannte es Nichts kommt von selbst – 15 Blicke auf das Arbeitsleben.

Sie finden es, wenn Sie hier klicken.

Jetzt sind wir fast 14 Jahre weiter und ich kann nun wie oben zitiert das Weitwinkelobjektiv an die Kamera des Historikers anschließen.

Und dann sehe ich die Anfänge meiner visuellen Aufzeichnungen im Jahre 2000, obwohl es viel früher begann.

Die Webseite mit dem Kampf um Mannesmann in Remscheid halte ich immer noch online und die Fackel brennt immer noch.

Sie finden sie hier verlinkt.

Natürlich ist dies zwar alles vorbei aber es erinnert an eine Zeit, die politisch gewollt die Zerstörung der hiesigen Industrie vorangetrieben hat.

Und es ist heute so geworden, weil es damals so gekommen ist.

Die Folge ist eine Stadt, die eine teilweise verwahrloste Innenstadt hat, zu einem Soziallager für immer mehr Abgehängte und Asylanten umgebaut wird und immer mehr einer toten Hose gleicht.

Das hätte man verhindern können. Gerade der Blick durch das historische Weitwinkelobjektiv gibt mir recht, aber ändert natürlich nichts.

Wenn ich das Ultraweitwinkelobjektiv aufsetze, sieht es so aus: Wenige Konzerne haben heute die Lebensmittelversorgung unter sich aufgeteilt und wenige Konzerne haben heute die digitale Welt und das digitale Denken und Finden unter sich aufgeteilt.

In Asien ist die Kontrolle noch weiter.

Und nun ein Blick mit dem Makroobjektiv:

Das schreckliche Heizungsgesetz in Deutschland zeigt gerade wie Politiker versuchen, ehrliche Menschen um ihr Haus und ihre kleine soziale Sicherheit zu bringen.
Und die Debatte um das Klima, wo sich die EU und die hiesige Politik CO2 Preise als Gewinnmaximierung ausdenken, zeigt, wie brutal hier gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen wird mit Scheinargumenten, um abzuzocken. Das Klima kann man nicht retten sondern man muß sich Veränderungen anpassen. Das wird versäumt.

So bietet das Makroobjektiv detaillierte Blicke, weil Geschichte detailliert und konkret ist und Dokumentarfotografie zeigen kann, was passiert ist.

Damit  stecke ich meine historische Fotoausrüstung wieder ein und wende mich der Gegenwart zu, die morgen schon wieder Geschichte ist. Motive für Fotos und Themen für Historiker gibt es ja genug.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert