Michael Kerstgens, NEUES LEBEN. RUSSEN – JUDEN – DEUTSCHE Texte von Hanno Loewy, Wolfgang Büscher, Pjotr Olev, Michael Kerstgens, Theresia Ziehe

Michael Kerstgens porträtiert das gesellschaftliche Leben in jüdischen Gemeinden in Deutschland seit der Wiedervereinigung.

„Knapp eine Viertelmillion jüdische Einwanderer kam als sogenannte Kontingentflüchtlinge seit der Öffnung des eisernen Vorhangs 1989/90 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Diese Zuwanderung hat die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nachhaltig verändert. Michael Kerstgens ist einer der wenigen Fotografen, die den Prozess der Einwanderung russischsrachiger Juen aus der ehemaligen Sowjetunion intensiv und über einen längeren Zeitraum dokumentiert hat.“

So aus der Information vom Verlag zum Thema.

Seit 2007 lehrt Michael Kerstgens als Professor für Dokumentarfotografie am Fachbereich Gestaltung der Hochschule Darmstadt.

Sein umfassendes Projekt über das jüdische Leben wurde 2011 in die Fotografische Sammlung des Jüdischen Museums in Berlin aufgenommen. Dazu gibt es gerade eine Ausstellung.

Insofern ist das Buch mehrschichtig interessant. Es ist erstens ein Geschichtsbuch über den Umgang von Deutschen, Russen und Juden seit der Wiedervereinigung, es ist zweitens ein Längsschnitt zu diesem Thema und es ist drittens ein Buch zur Dokumentarfotografie von einem Professor für Dokumentarfotografie.

Schauen wir es uns also genauer an.

„Neues Leben“ ist der Titel des Buches und so ist es auch. Es scheint sich überwiegend um Auftragsarbeiten für Magazine wie „Stern“ und „Geo“ gehandelt zu haben, die es ermöglichten, in den 90er Jahren die Kultur mit ihren verschiedenen Riten in jüdischen Gemeinden zu fotografieren.

So entstanden Bilder, die weniger wegen ihrer besonderen Ausdruckskraft als vielmehr wegen ihrer dokumentarischen Nüchternheit überzeugen.  Alle Fotos sind schwarzweiss und eher an der klassischen Geometrie orientiert.

Nach gut hundert Seiten im Buch gibt es Fotos „zwanzig Jahre später“, also quasi 1991 zu 2011.

Es sind eigentlich alles Beispiele für besonders gelungene Aufstiege. So dokumentiert Michael Kerstgens einige Personen bei der Arbeit in Deutschland und in Amerika zwanzig Jahre später.

Das Buch ist zweifellos themenorientierte Dokumentarfotografie.

Das Thema an sich ist ja schon sehr undankbar, weil hier natürlich im Hintergrund die Geschichte mit ihren Massenmorden steht. Aber wenn man sich mit den Fotos beschäftigt und den Texten, dann merkt man, dass neue Generationen auch neu anfangen zu denken. Denn sie nehmen das Vorhandene als ihre Realität an. Und die ist so, dass in Deutschland heute viele Kulturen und Nationen zusammenleben und auch die jüdischen Gemeinden zu dieser Normalität gehören. Die Bilder regen zu vielen Assoziationen an und zeigen auch, dass die Gegenwart von völlig anderen Fragen beherrscht wird wie die Vergangenheit.

Das Buch ist ein gutes Beispiel für einen dokumentarfotografischen themenorientierten Längsschnitt zu einem der schwierigsten Themen dieser drei Völker und zeigt, dass vieles aus der Geschichte in eine neue Gegenwart hineingewachsen ist.

Die Fotografien sind eine „erste visuelle Annäherung an einen Entwicklungsprozess“. Genau das fotografisch festzuhalten gelingt ausserordentlich gut.

Es ist im Kehrer-Verlag erschienen.

Michael Kerstgens

NEUES LEBEN. RUSSEN – JUDEN – DEUTSCHE

ISBN 978-3-86828-277-1

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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