Bilder im Kopf ohne Fotos

Lesen ist wichtig

„Dagegen erscheinen die Marodeure fast wie jämmerliche, kleine Diebe. Ein abgefangenes Telefonat zeigt aber auch hier die Abgründe der menschlichen Seele. Ein russischer Soldat, vielleicht sogar ein Offizier, berichtet ungeniert im Gespräch mit seiner Frau, wie er und seine Kameraden sich in einem verlassenen Haus schamlos bedienen. „Ich habe ein bisschen Kosmetik mitgenommen. Allerdings waren nur Probedöschen da … Dann Damensportschuhe, ein Paar NB, alles Markenartikel, weißt du … Größe 38.“ Alle Jungs würden sich die Tragetaschen vollstopfen, kein Problem. T-Shirts, Trikots, Vitamine. Eine sportliche Familie. Ein Haus mit Sauna. Die Soldaten würden sich schon seit zwei Tagen dort entspannen. Nur das Notebook will der Mann nicht mitgehen lassen, die Sache sei ihm doch zu heikel, man könne damit auffliegen. Das ruft bei seiner Frau nur Bedauern hervor, schließlich hätte ihre kleine Tochter, die bald zur Schule geht, doch einen Computer gebraucht. Ansonsten darf ihr Mann alles nehmen: je mehr, desto besser. Sie würde sich über einen „Gruß“ aus der Ukraine freuen.“

Dieser Text ist von Juri Durkot, der auf welt.de ein Tagebuch über den Ukrainekrieg führt.

Beim Lesen dieses Textes sind bei mir im Kopf sehr viele Bilder entstanden. Fast jedes Bild führt assoziativ zu einer anderen Geschichte im Kopf.

Deshalb ist Lesen so wichtig und kann durch Fotos nicht ersetzt werden.

Wie könnte ein Foto diese Geschichte erzählen?

Würden wir einen Soldaten mit Telefon und Puderdöschen in der Hand in einer geplünderten Wohnung sehen, dann würden wir nur dies sehen aber nicht die Geschichte drumherum.

Hier ist dann auch die Grenze von Dokumentarfotografie zu sehen und die wesentliche Bedeutung von Texten zu finden.

Daher sind bei Dokumentarfotos die Texte fast immer sehr wichtig, um das Foto richtig einordnen zu können. Es sei denn die Fotos sind rein illustrativ wie z.B. eine bettelnde Person, wenn es um das Thema Armut geht. Aber selbst damit wird schon ein falsches Bild erzeugt, weil Armut mit bettelnden Personen verknüpft wird – also sind alle, die nicht betteln, nicht arm?

Mediennutzung muß sehr differenzieren, um nicht sofort von Fotos gefangen zu werden, die Gefühle auslösen und die Vernunft wegschließen.

Das ist eine lebenslange Aufgabe.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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