Die Leiden anderer betrachten

Es ist ein Phänomen der neuen Medien, daß wir z.T. live dabei sind, wenn Menschen auf den tödlichen Bombeneinschlag oder Überfall warten. Das Leid hat viele Leiden.

Früher hat man es live nicht gesehen, erst später auf einem Foto – wenn überhaupt.

Heute sind Fotoreporter so gut wie gar nicht mehr existent und im Kriegsgebiet unterwegs, um uns zu zeigen, was los ist, weil wir von überall her Smartphonefotos und -videos von Betroffenen sehen, die dann von den Medien gezeigt werden. Echtheit und Sichtweise sind dabei oft nicht überprüfbar.

Die Welt der Berichterstattung hat sich also total verändert.

„Wer sich ausschließlich über die historische Entwicklung der fotografischen Repräsentation von Krieg und Gewalt informieren möchte, muss Sontags Buch nicht zur Hand nehmen. Es ist jedoch in anderer Hinsicht lesenswert. So fragt die Autorin danach, was Bilder, die verstümmelte Leichen oder grausam entstellte Gesichter von Kriegsversehrten zeigen, beim Betrachter eigentlich bewirken. Fotografie als Schocktherapie hat eine lange Tradition. Doch jeder Schock hat auch ein Verfallsdatum. Trotzdem vertrauen viele auf die Konsens stiftende Wirkung von Kriegsfotos und machen damit gute Geschäfte. „Die Menschen wollen weinen“ lautet Sontags bissiger Kommentar (S. 97). Sie bewertet die emotionale Mobilisierung durchaus ambivalent, denn „wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ‚Wir’ als selbstverständlich voraussetzen“ (S. 13) ….

Kriegsfotografie hat keineswegs zur weltweiten Ächtung von Kriegen geführt. Auch Bilder, bei denen sich einem der Magen umdreht, sprechen nicht für sich. Zuschauer bei Massakern und Massenhinrichtungen zu werden, ist eine moderne Erfahrung, die unterschiedliche Gefühle hervorbringt. Mitleid, Sensationskitzel, Empörung oder Zustimmung sind nur einige Facetten eines zweifelhaften Medienerlebnisses. Der Appetit auf Bilder, die gequälte Menschen zeigen, ist ungebrochen. Sontags Analyse bewegt sich zwischen Voyeurismus, Beschämung und Empathie. Trotz Gewöhnung gibt es ihrer Meinung nach Fotos, deren Eindringlichkeit sich nicht abnutzt. Fotos helfen uns, Ereignisse zu erinnern, und unser Gedächtnis arbeitet überwiegend mit Standbildern – daher erinnern wir uns auch eher an Bilder als an die Ereignisse selbst.“

Dieses Zitat ist von Ulrike Jureit. Sie rezensiert ein Buch von Susan Sontag, das in mehrfacher Weise besonders interessant ist.

Denn ihre Texte entstanden u.a. im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen im Bosnienkrieg 1992 bis 1995:

„Sechs Fakten, die Sie über den Bosnienkrieg wissen sollten

  • Es ist der grausamste Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mit über 100.000 Toten und über zwei Millionen Vertriebenen.
  • Mehr als 700 000 Menschen flüchten ins Ausland, die Hälfte von ihnen nach Deutschland. Die allermeisten sind wieder heimgekehrt.
  • Der einzige Völkermord in Europa nach 1945: Im Juli 1995 ermorden serbische Verbände in der ostbosnischen Stadt Srebrenica bis zu 8000 muslimische Jungen und Männer.
  • Nur wenige Schuldige für die Kriegsgräuel wurden vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verurteilt. Die allermeisten Täter leben weiter unbehelligt auf freiem Fuß.
  • Der in der US-Luftwaffenbasis Dayton geschlossene Friedensvertrag schafft einen lebensunfähigen Staat mit zwei fast selbstständigen Landesteilen (Entitäten), zehn sehr autonomen Kantonen und der von allen verwalteten Stadt Brcko (ein Kondominium).
  • Trotz vieler Milliarden Finanzhilfen aus der EU und den USA sowie einem Heer von Diplomaten und Experten lassen Reformen und Modernisierung des kleinen Balkanstaates immer noch auf sich warten.“

Das ist genau 30 Jahre her.

2022 ist wieder Krieg in Europa plus die alten „Baustellen“.

Im Fernsehen werden wir gerade von Bildern aus den Kriegsgebieten und Konfliktzonen überschwemmt, die aber fast nie von Reportern stammen. Wir sehen Fotos von digitalen Überwachungskameras oder Videos aus Smartphones von Betroffenen, die als authentische Belege genutzt werden, wobei meistens gesagt wird, daß die Quelle nicht genau verifiziert werden kann.

Die Reporter alter Schule gibt es nicht mehr und  der neue Journalismus geht fast nicht in die Gefahrenzone rein sondern berichtet maximal von den Rändern, zumal hier ja nicht mal mehr „embedded journalism“ geht.

Die „echten“ Fotos mittendrin, die damals Kriegsreporter lieferten, liefern nun auf ihre Art Betroffene mit Smartphones in den digitalen sozialen Medien bis der Zugang gestört oder abgeschaltet wird.

Durch diese Bilder entstehen in unseren Köpfen die Bilder, die ein Bewußtsein bilden und Gefühle auslösen.

Wir müssen damit umgehen, sie sind interessengeleitet und wir müssen weitersehen und z.B. Fotos durch Gegenfotos und Handeln ersetzen und Bilder einordnen.

Das wäre hier z.B. Friedensfotografie.

Das ändert nichts an dem Leid an sich aber vielleicht in unserem Kopf und dem Umgang mit dieser Situation.

Und zur Wirklichkeit gehört ja auch, daß ähnliche Kriegsgräuel parallel an anderen Orten der Welt existieren aber dort solche Bilder nicht gemacht und gezeigt werden. Deshalb sind sie auch nicht in unserem Bewußtsein.

Der mediale Krieg wird gerade in der Ukraine geführt und die Unterdrückung dieser Fotos in Russland zeigt ja, wie wichtig Bilder sind, die man sieht und die man nicht sehen soll…

Wie man mit diesem Wissen umgeht und was nun das persönliche Handeln bestimmt, muß jeder selbst verarbeiten und entscheiden.

Aber ich wollte diesen Hintergrund aus gegebenem Anlaß hier einmal kurz aufschreiben, da es ja direkt um das Thema Dokumentarfotografie als Kriegsfotografie heute in diesem speziellen Fall geht.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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