Was ist Dokumentarfotografie – Streetfotografie, Fotografie der Zeit und der Gegenwart?

In ihrem Buch „Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken“ weist die Herausgeberin Renate Wöhrer darauf hin, daß rückblickend bis in die 20er Jahre des 20. Jhrdts. eigentlich alle Fotografien als Dokumente galten.

Im englischen Sprachraum gab es record photography, im deutschen Sprachraum die Aufnahme. Das drückte eine Nähe zum Dokumentcharakter aus.

John Grierson nutzte das Wort dokumentarisch erstmals bei einer Filmkritik und seitdem war es in der Welt. „Erst die bewusste filmische Gestaltung und argumentative Struktur des aufgezeichneten Materials bezeichnete er als dokumentarisch“, so Wöhrer.

Das Wort wurde in den 30er Jahren populär, so wie später Streetfotografie oder heute Selfies.

„Welcher Umschlag geschah zwischen record photography und documentary photography, zwischen Aufnahme und Dokumentarfotografie?“

Das ist eine gute Frage, die in diesem Sammelband ebenfalls beantwortet wird.

Damit ist aber noch nicht Schluß.

Annika Baacke hat dieses Thema sogar in einer Doktorarbeit verarbeitet:

„Eine Fotografie kann Dokument und Dokumentarfoto gleichzeitig sein. Ein Dokument ist jedoch nicht zwangsläufig eine Fotografie und nur weil ein Foto ein Dokument ist, handelt es sich dabei noch nicht um eine Dokumentarfotografie.“

Und jetzt? Hat dies alles noch Relevanz für die Gegenwart?

Ich mache mal folgendermaßen weiter, um den Transfer von der Wissenschaft in die Fotopraxis zu gestalten.

Dokumentarfotografie geht über den Augenblick hinaus.

Dokumentarfotografie versucht etwas zu dokumentieren.

Jeder dokumentiert anders.

Wie man dokumentiert nennen wir Betrachtungsweisen der Wirklichkeit.

Was dokumentiert wird, hängt von den Motiven ab, die man sieht und sucht.

Dokumentarfotografie und politische Fotografie können auch zusammengehören.

Aber auch das Unpolitische ist politisch, weil Politik nicht alles ist aber in allem ist.

Propagandafotos sind dabei nichts anderes als die Fortsetzung inszenierter Fotografie zum Zweck der Manipulation.

Es ist also ein großes Thema. Man kann fast sagen, Dokumentarfotografie ist nicht alles aber ….

Das Dokumentieren des sozialen Lebens unter dem Gesichtspunkt materieller Bedingungen als sozialdokumentarische Fotografie ist auch soziale Fotografie wie die Dokumentation ungestellter Situationen in der Öffentlichkeit bzw. auf der Straße auch, die eher Strassenfotografie, neudeutsch Streetfotografie genannt wird.

Zweck, Motiv und Zeitpunkt sind also Elemente der Fotografie und der Dokumentarfotografie. Daher ist auch Dokumentarfotografie ein Kind der Zeit und des Zeitgeistes.

Hier habe ich mich viele Jahre mit dem klassischen Ansatz der sozialdokumentarischen Dokumentarfotografie beschäftigt.

Der Übergang in die neue Zeit gelang mir so wie es bei Magnum war: parallele Betrachtungsweisen der Wirklichkeit wurden zugelassen – personifiziert in Henri Cartier-Bresson und Martin Parr.

Henri Cartier-Bresson ist mein fotografischer Lehrmeister aber öffentlich kaum mehr relevant und Martin Parr hat es geschafft, die Gegenwart neu zu betrachten und woanders hinzuschauen.

Im Friedrich-Verlag sind dazu sogar pädagogische Unterlagen erschienen, die die visuelle Welt als Alltagserleben zur Bewußtseinsbildung einsetzen:

„Die Dokumentarfotografie hält Szenen aus dem Alltag fest – weil sie witzig sind, exemplarisch, denkwürdig oder ästhetisch ansprechend oder weil sie eine Geschichte erzählen. Die Kameralinse macht das Geschehen zu einem bewusst gestalteten Bild mit einer Aussage. Das setzt ein „unbedingtes Interesse für Menschen und Dinge, für Vorgänge und Strukturen“ voraus (Elisabeth Neudörfl). Die Dokumentarfotografie hat häufig eine sozialkritische Haltung. Sie hilft, Zusammenhänge aufzudecken und Dinge sichtbar zu machen, zu deren Wahrnehmung wir die Reduktion auf das Bild brauchen. Die Arbeit des britischen Fotografen Martin Parr eignet sich besonders, eine kritische Reflexion der uns umgebenden Bilderwelt anzustoßen. Bezeichnet er selbst doch die überwältigende Wirkung publizierter Bilder als „Propaganda“ und versucht dem durch seine eigenen Bilder entgegenzuwirken. Sie scheinen oft grotesk oder übertrieben, mit ungewöhnlichen und doch alltäglichen Motiven, grellen Farben und ungewohnten Perspektiven. So kann man auf seinen Fotos das bizarre Verhalten von Menschen am Strand oder die erstaunlich spießigen Vorlieben von schrill gekleideten Goth-Fans beim Festivalbesuch betrachten.

Parrs Bilder durchbrechen unsere Sehgewohnheiten. Viele von Parrs Themen – Freizeit, Konsum, Kommunikation – sind für Heranwachsende relevant. Seine Serien mit Fokus auf die britische Kultur erlauben das für den Fremdsprachenunterricht besonders relevante kulturelle Sehen. Dazu eigenen sich seine Serien Clacton, Southend, Whitby Goth Weekend oder Think of Scotland. Andere Serien wie Death by Selfie oder The Selfie Stick und The Facebook Problem sind explizit medienkritisch.“

Das ist Dokumentarfotografie heute – nicht nur aber auch und das auch noch ziemlich dominant. So ändern sich Sichtweisen und Betrachtungsweisen der Fotografie auch innerhalb ihrer Themenfelder.

Für mich sind mittlerweile einige Fragen der Schlüssel, um das Thema Dokumentarfotografie und sich selbst lebenslang immer wieder neu anpacken zu können:

  • Welche Betrachtungsweisen der Wirklichkeit habe ich,
  • welche Interessen leiten mich,
  • welche Themen suche ich,
  • welche Themen meide ich?
  • was will ich?

Für mich ist Martin Parr die Verkörperung des neuen Sehens, weil er eine völlig andere Betrachtungsweise der Wirklichkeit einführte.

Aber natürlich kann man auch heute mit der visuellen Grammatik eines Henri Cartier-Bresson fotografieren. Denn es geht um neues Sehen, anderes Sehen. Wie die Betrachtungsweise eines Henri Cartier-Bresson heute aussehen könnte, hat fast schon genial Tavis Leaf Glover aufgezeigt.

Setzen wir also die alte Brille ab und probieren etwas Neues!

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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