Fakefokus oder Unschärfe als Waffe in der Fotografie

Im Jahr 2000 hielt Wolfgang Ullrich Vorlesungen zum Thema Unschärfe an der Akademie der Bildenden Künste in München. Diese wurden ergänzt im Jahr 2002 bei Klaus Wagenbach unter dem Titel Die Geschichte der Unschärfe publiziert. Dieses Buch erzählt aber nicht nur über wichtige Entwicklungen zur Unschärfe als fotografisches Gestaltungsmittel, sondern auch über die sozialen Gebrauchsweisen der Unschärfe in der Fotografie.

Ich bin Ende 2022 auf dieses Buch gestossen, weil ich Unschärfe in der Fotografie als Gestaltungsmittel besser nutzen und verstehen wollte.

Herr Ullrich schreibt: „Die Differenz könnte größer kaum sein: Waren die Fotos der unscharfen Richtung ein Hort für die Augen der Unzufriedenen und Modernisierungsverlierer, so dienen die unscharfen Bilder inzwischen der … Selbstinszenierung der Glücklichen…. Als Ausdruck eines Lebensgefühls sind die Fotos in den Magazinen – aber kaum minder viele Bilder der Kunst und des Journalismus – ziemlich selbstbezüglich; sie zelebrieren den Luxus der Oberflächlichkeit, den man sich nur in Wohlstandszeiten leisten kann. Daß die – durchaus nicht wenigen – Sieger der Gesellschaft hier ausschließlich ihre eigene Welt illustrieren, bedeutet historisch im übrigen eine neue Situation…. und so stehen nun erstmals diejenigen, die für die Bilder verantwortlich sind, selbst auf der Seite derer, denen es gut geht: Noch nie zuvor gab es so viele Bilder, die nicht nur Szenen schönen Lebens zeigen, sondern die damit zugleich genau das Lebensgefühl der Fotografen, Künstler und Bildredakteure wiedergeben…. Die Geschicht der Unschärfe ist also nicht zuletzt die Geschichte eines Machtwechsels.“

Das ist vor gut 20 Jahren aufgeschrieben worden. Vor zehn Jahren habe ich mich gefragt, wieso die Realität der Arbeitenden aus der publizierten Fotografie verschwindet.

Meine Gedanken damals lauteten: „Wenn es so ist, dann ist das heutige Verschwinden der Selbstdarstellung entweder ein Beleg dafür, dass es keine Arbeiterklasse mehr gibt oder ein Beleg dafür, daß diese Menschen sich nicht mehr ins Licht trauen. Selbstdarstellung setzt ja voraus, dass man sich selbst als Teil von etwas darstellen will.

Das „Wir“, der „proletarische Lebenszusammenhang“ (R. Stumberger), zeigte sich in der gemeinsamen Wohnwelt, Arbeitswelt und Sozialwelt.

Wenn man diese gemeinsamen Erfahrungen nicht mehr macht und teilt und sich auch keiner Klasse zugehörig fühlt, dann ist das soziale Bewusstsein weg und die Suche nach anderen Zugehörigkeitsobjekten und Identifikationsmöglichkeiten beginnt.

Dabei darf man aber nicht die Arbeiterklasse mit Randgruppen verwechseln. Das Fotografieren von Randgruppen und die Arbeiterfotografie sind völlig verschiedene Dinge und die politische Dimension der Arbeiterfotografie war medial in der Weimarer Republik und in Deutschland in den 70er Jahren eine starke Kraft, die das Medium Fotografie zur Selbstreflexion und weniger als Mittel im sozialen Kampf einsetzte.

Man kann natürlich auch sagen, dass heute jeder in sozialen Netzwerken sich fotografisch selbst darstellen kann und daher eine Zugehörigkeit kraft Klasse nicht mehr erforderlich sei. Allerdings sind die sozialen Bedingungen nicht weg, die die Arbeiterklasse hervorgebracht haben. Soziale Atomisierung blockiert aber und „soziale“ Netzwerke verbinden nicht.

Der Hunger bei uns ist aktuell besiegt aber schlechte Arbeit und vieles mehr sind immer noch da.

Nur ist die Arbeiterklasse an sich ja auch in der Demokratie mit dem wachsenden Wohlstand zerflossen, weil sie letztlich über die materiellen Erfolgselemente nicht hinauskam.

Eine Arbeitnehmerklasse 2.0 als Antwort auf die neuen Herausforderungen des 21. Jhrdts. mit zunehmender Zerklüftung der Arbeit, schlechter Arbeit, unsicheren Arbeitsverhältnissen, lebenslangem Hartz 4 Niveau und vielem mehr wird nicht als Herausforderung begriffen, so daß der Zusammenhalt als gemeinsamer Interessenpool nicht existiert sondern lediglich nach soziologischen Kriterien Schichten definiert werden können.

Öffentliches Bewußtsein

Was in den Medien präsent ist, ist repräsentativ für unser Denken über die Gesellschaft.

Die digitale Welt hat es bisher nicht geschafft, die Aufklärung weiter zu verbreiten in unserem Land.

Wer will, kann heute mehr erfahren, aber es wollen deshalb nicht unbedingt mehr Menschen davon Gebrauch machen.

Wissen ist anstrengend, es zu verbergen noch viel mehr und in einem Land, in dem Bildung durch Gesetze sogar rentenrechtlich abgestraft wird, ist Bildung ein Hindernis. …

Wenn die fotografischen Themen, die öffentlich präsent sind, ein Hinweis auf soziale Veränderungen sind, dann ist das Fehlen der Arbeitnehmer und der Realität ihrer Arbeit und Lebensumstände im Mainstream fotografischer Themen in Deutschland ein Hinweis, der eine Menge aussagt.“

Im Jahr 2018 wurde dann die neue visuelle globale Kultur der digital mächtigen Konzerne dominant, die genau das nun umsetzen durch ihre quasi Monopolstellung, was Wolfgang Ullrich schon im Jahr 2000 sah aber damals noch nicht digital dominierend war.

Hinzu kommt heute das Ablenkungs-fernsehen durch Videos im Handy, Tablet und Monitor.

Einzelne Fotos, die man anschaut, zwingen zum Stop, während Videos unablässig unsere Aufmerksamkeit kapern und eigenes Denken stoppen.

Obwohl es immer mehr Bilder (Fotos) gibt, sind sie in den Medien den Bewegt-Bildern (Videos) unterlegen.

So sind Visual Trends und eine globale visuelle Kultur in mehrfacher Hinsicht eine Art FakeFokus, weil sie nicht die Realität zeigen, sondern Bildern in den Köpfen der Menschen erzeugen (sollen) jenseits der Realität, um soziale Verhältnisse zu kaschieren und Herrschaftsverhältnisse zu verhüllen und zu stabilisieren. Diese „Augenzeugenillusion“ ist immer öfter entscheidend für die Wahrnehmung der Welt und für eigene Entscheidungen.

Für mich ergibt sich daraus aber noch eine weitere Dimension. Es hat sich nämlich in den letzten 23 Jahren in diesem Bereich nichts geändert sondern vielmehr noch verschärft. Die Umsetzung in China und Russland zeigt uns hier, was uns blüht, wenn wir den westlichen Digitalkonzernen nicht Grenzen setzen und zugleich geben wenige Konzerne auch hier schon vor, was wir sehen und denken sollen – aber noch nicht müssen.

Wir haben hier noch Freiheitsrechte und sollten diese auch verteidigen.

Für mich persönlich ist das Buch von Wolfgang Ullrich daher nicht nur ein Erkenntnisgewinn, sondern es ermöglicht mir auch einen Abgleich mit eigenen Erkenntnissen und ich konnte so die letzten 25 Jahre mit eigenem Erleben und Beobachten in dieser Frage abgleichen.

Daraus ist nun dieser Text entstanden, der ein echter Zeitspiegel ist und es gut ermöglicht, die Gegenwart und die neue soziale Wirklichkeit auf einen Blick zu erfassen.

So ungefähr …

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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